XL - Die Bibliothek

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Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Spätsommer

Rúnknǫttr, Titanengrab


Iora hatte das Gefühl, sie würde erblinden, als sie den Turm betrat. Den ersten Korridor dorthin hatte sie ohne Probleme geschafft. Auch in den Nebenkammern war der Schein nur schwach gewesen, doch hier... Das wenige Licht reichte kaum, um den gewaltigen Schacht zu erhellen, doch das Feuer, das von den Büchern und Schriftrollen ausging, war heller als die Sonne, die wohl gerade weit über ihnen und außerhalb des allgegenwärtigen Steins schien.

Der Weg zur Bibliothek war erstaunlich ereignislos verlaufen. Sicher, ein paar Mal hatte man sie komisch angesehen, aber entweder hatte niemand vermutet, dass sie eine Elfe war oder der Anblick von Giræsea ließ den Gedanken, etwas Unüberlegtes zu unternehmen, im Keim ersticken. Und Iora war äußerst dankbar für ihre imposante Gestalt.

Haval hatte recht gehabt, sie hätte den Weg hierher vermutlich alleine nicht gefunden. Die Sprache, in der die Schilder geschrieben waren - welche auch immer das sein mochte. Vielleicht Utfehi? - konnte sie nicht lesen. Zum Glück führte Thorgest sie zielsicher.

Der Eingang zur Bibliothek war beeindruckend. Am Ende einer langen Straße stand das Tor. Die Flügel aus Stahl, Stein und Holz. So gewaltig, dass Iora überzeugt war, niemand könnte sie bewegen. Zu beiden Seiten Statuen von Zwergen. Eine Frau. Ein Mann. Die Bärte prachtvoll geflochten. Die Arme nach vorne ausgestreckt, ihre Gabe darbietend. Zwei Bücher aus massivem Stein. Die Buchstaben in Gold eingelassen. Worte, die sie nicht lesen konnte. Nicht Utfehi? War es vielleicht Attukabi?

Noch während sie sich gewundert hatte, hatte Thorgest sie durch das offene Tor geführt. Er hatte angefangen, davon zu erzählen, wie bedeutsam dieser Ort war; wie gern er in seiner Jugend nach Rúnknǫttr gereist war, um die Bibliothek zu besuchen; wie unvorstellbar viel Wissen hier gebündelt sein musste; verlor sich kurz in einer Lobrede an die Architekten des Gewölbes und die Ordnung der Bibliothekare; fing sich wieder schweifte zur alten Bibliothek im Zentrum ab und schließlich kam er zum Thema, was sie eigentlich hier suchten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie durch die Eingangshalle, die erste kleine Halle mit Büchern - sie war Iora schon heller vorgekommen, als sie sein sollte - seitlich eine Treppe hinauf, durch ein Halle über der ersten. Stets vorbei an Regalen voll Bücher, Schriftrollen und Tafeln. Vorbei an Gängen, die versprachen, tiefer in die Eingeweide der Bibliothek zu führen. Und schließlich durch die Flügeltür, die sie zum Turm führte. Thorgest sprach weiter, doch Iora hörte ihn nicht. Sie ging Schritt um Schritt weiter nach vorne, um den Turm in seiner vollen Größe sehen zu können. Ein gewaltiger Schacht, die Wände gesäumt mit Büchern, von denen helles Licht ausging. Ebenen, auf denen die Besucher und Bibliothekare ihrer Arbeit nachgingen. Auf jeder dieser Ebenen Balkone und Gänge, die tiefer in die Bibliothek führten. Brücken, die die Balkone verbanden. Treppen, die die Ebenen verbanden. In der Mitte des oktogonalen Schachtes hingen Plattformen mit Tischen und Stühlen; ebenfalls erreichbar über Brücken.

Sie wollte hier sein. Sie spürte all das Wissen, das sich in den Abertausenden an Büchern verborgen hielt. Es rief nach ihr. Flehte sie an, sich ein Buch zu nehmen und zu blättern. Sie könnte ein Leben hier verbringen und würde sich nicht langweilen.

Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Giræsea. "Beeindruckend, nicht?" - "Ja..." Recht viel mehr fiel Iora nicht ein. Es war atemberaubend. "Zu schade, dass du hiervon nicht allzu viel sehen wirst." In ihrer Stimme lag etwas zu viel Schadenfreude für Ioras Geschmack. "Komm, wir müssen da rauf." Ihr Finger wies vier Ebenen nach oben und auf und auf einen schmalen Torbogen, der in einen Nebenraum führte. Thorgest schmunzelte.

Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt