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Die Zeit schien wie eingefroren.

Niemand bewegte sich, niemand sprach. Nicht einmal Atemgeräusche konnte ich wahrnehmen.

Noch nie zuvor hatte ich gesehen, wie eine Kugel auf einen Menschen traf.

In den letzten Wochen hatte ich so einiges mitgemacht und Sachen erlebt, von denen ich niemals gedacht hätte, ich würde sie einmal durchmachen.

Von einer ganz normalen, jungen Krankenschwester wurde ich zur Fluchthelferin, die in einen Bandenkrieg verwickelt wurde und eine Geiselnahme mit Schießerei erlebte.

Surreal fühlte sich alles in diesem Moment an.
In dem Moment, in dem ich sah, dass sich das Blut, das aus der Schusswunde lief, über den Boden verteilte.

Wunden versorgen, das konnte ich, doch ich war mir nicht sicher, ob es bei dieser Wunde noch etwas bringen würde, denn der rote Fluss wurde immer heftiger.
Dass das Opfer zu retten war, wagte ich zu bezweifeln.

Mit aufgerissenem Mund, blickte ich zur Schützin.

Roxanne stand immer noch genau dort, wo sie den Schuss abgefeuert hatte. Breitbeinig und mit den Händen an der Pistole weit von sich gestreckt.

Mit tränengeflutetem Blick starrte sie auf ihr Opfer, das unendlich stark blutete.

Was hatte sie nur angerichtet?

Wie viel Wut musste in ihr gesteckt haben, um auf einen Menschen zu schießen?

Was hatte er ihr bloß alles angetan?

Während ich Roxanne beobachtete und darüber nachdachte, wie schlimm ihre Vergangenheit gewesen sein musste, sah ich plötzlich, wie sie von jemandem ruckartig und schützend in den Arm genommen und fest darin eingeschlossen wurde.

Für ein paar Sekunden wirkte sie bewegungsunfähig, doch dann konnte sie die Umarmung erwidern und ließ die Waffe fallen.

Als ich zurück zum blutenden Opfer sah, und ich mir der Situation bewusst wurde, konnte ich plötzlich wieder reagieren und erwachte aus meiner Starre.

Ich fühlte mich zu jenem Tag zurückversetzt, an dem ich zuletzt eine Schusswunde versorgt hatte.

Kierans.

Kurz wurde mir schummerig und ich sah Doppelbilder.

Doch dann kam ich wieder zu mir.

Als hätte jemand die Welt wieder ins Drehen gebracht, atmete ich ein.

Ich blickte in die Augen des blutenden Opfers.

Mehrfach musste ich blinzeln.

Sie waren grün-karamell.

Wie Kierans.

Kieran war das Opfer. Er war derjenige, der getroffen wurde.

Für eine Sekunde sahen wir uns noch an, bevor seine Augen nach hinten wegrollten und sein Kopf zur Seite kippte.

Nein!

Ein unfassbar großer Schmerz zog mir durch mein Herz.

Ich schrie.

Ich spürte, dass er in den letzten Zügen seines Lebens sein würde.

Blitzschnell stürmte ich endlich auf den leblosen Körper zu und wollte gerade meine Hände auf die Wunde pressen, als auf einmal die schwere Eisentür aufsprang und ein Dutzend bewaffneter Menschen
die Halle flutete.

Sie schrien, richteten ihre Waffen auf uns und ich spürte, wie mir immer und immer schwindeliger wurde.

Die Männer traten Roxanne in die Kniekehlen, bis sie mit den Händen hinter dem Kopf auf den Boden sank und dann... dann sackte auch ich zusammen, als mir schwarz vor Augen wurde.

Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt