47 / Therapie

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Violet

Das auszusprechen tat mir sicher mehr weh als ihm, denn irgendwie war es für mich, als wäre das Erlebnis wieder ganz präsent vor mir.
Immer hin hatte ich mich eine sehr lange Zeit nicht mehr damit beschäftigt.
Auch war ich sehr unschlüßig darüber, was ich jetzt tun sollte.
Ich konnte nicht glauben, dass meine Schwester ausgerechnet mit Gally...
Allein der Gedanke ließ mich angewidert das Gesicht verziehen.

Und warum fühlte ich mich dennoch erleichtert zu wissen, dass es nicht Newt war, der da das Bett mit ihr geteilt hatte?!

Es tat gut, ihn hier zu haben, irgendwie. Er konnte am entferntesten, aber dennoch am besten nachvollziehen, wie es mir damit ging.
Er hatte es immer hin gesehen.
„Ich kann es Sol nicht sagen.", bestimmte ich dann nach einer Weile aus dem Nichts ziemlich entschlossen, womit ich die Aufmerksamkeit des Blonden weckte. Dieser sah mich weniger verständnisvoll an, was ich ihm nicht übel nehmen konnte.
„Wenn sie ihn wirklich liebt, kann ich ihr das nicht kaputt machen, Newt,
Außerdem hat sich Gally geändert, irgendwie..
Er hat bewiesen, dass es ihm leid tut und er sowas nie wieder tun würde."

Jetzt sah er weniger verständnislos, sondern fast wütend und völlig fassungslos aus und schüttelte den Kopf.
„Weißt du wie sauer sie sein wird, wenn sie erfährt, dass wir das vor ihr verheimlicht haben?!", rief er aufgebracht. Es war ja nicht so, dass ich mir das Szenario nicht schon durch den Kopf hatte gehen lassen.
„Von wem soll sie es denn erfahren? Die einzigen die davon wissen, sind du, Thomas und ich. Und wenn ich nichts sage.. und du nichts sagst.."

„Und wenn Gally selbst es ihr erzählt? Wenn er sich nämlich wirklich geändert hat und wirklich zu seinen Fehlern steht, dann wird er das tun. Er sollte es.", murmelte der Blonde nun wieder etwas ruhiger. Wow, an diese Gefühlsausbrüche musste ich mich wirklich wieder gewöhnen.
Er hatte recht und wir steckten jetzt wirklich in der Klemme.

„Vielleicht sollte ich Gally selbst konfrontieren. Wir wissen ja sowieso nicht genau, was das abgelaufen ist-"

„Ich will es auch nicht wissen." Newt seufzte, als auch er zu realisieren begann, was für eine verzwickte Lage das war.
Er schien zu verstehen, dass die Situation wohl für niemanden ganz schmerzlos ausgehen würde und ich wollte mir auch ehrlich gesagt nicht bildlich vorstellen, was Sol Gally antun würde, würde sie es erfahren.

„Anderes Thema", begann er dann plötzlich und riss mich aus meinen Überlegungen, damit ich ihn ansehen konnte. Nicht unbedingt was schlechtes.
„Es tut mir leid, was gestern Nacht passiert ist. Ich hätte dich nicht küssen dürfen, das war falsch. Ich... nach diesem Albtraum war ich total durcheinander und du warst so da und hast mich da raus geholt. Ich war einfach so überschüttet mit Emotionen, dass ich aus Impuls gehandelt habe. Ich entschuldige mich ehrlich dafür und ich werde es auch Thomas erklären und einstecken, was auch immer er dann vorhat zu tun.
Ich hoffe wir können trotzdem nach wie vor miteinander reden und alles ist gut.", erklärte er mit ruhiger, gesenkter Stimme, sodass ich im Hintergrund noch das Rauschen des Meeres wahrnehmen konnte.
Nicht, dass ich mich in irgendeinem Sinn darauf konzentrieren konnte.
Ich war viel zu überrascht davon, dass Newt tatsächlich über dieses Thema sprach, anstatt es einfach unter den Tisch zu kehren und darauf zu warten, bis Gras über die Sache gewachsen war und weder ich noch er noch darüber sprachen.
Er hatte sich verändert.

Ich war so baff, dass ich ihn wie ein Auto angestarrt haben musste, anders konnte ich mir nämlich nicht erklären, warum er auf einmal zu lachen begann.
Verwirrt legte ich den Kopf zur Seite und musterte sein Gesicht, während er leise vor sich hin lachte. Wann hatte ich ihn das letzte Mal überhaupt Lächeln gesehen?
Und auf wundersame Weise verstand ich auf einmal, was er gemeint hatte.. mit diesem emotionalen Impuls.

„Wieso lachst du?", fragte ich murmelnd und bemerkte erst danach, dass ich mir selbst das Schmunzeln nicht hatte verkneifen können.
Dieses Lächeln war ja schon immer ansteckend gewesen, das hatte sich nicht geändert.
„Du hast mich so erschrocken angesehen, es sah so lustig aus, sorry."
Grinsend fuhr sich der Blonde durchs dichte Haar und schüttelte einmal den Kopf, um seine Frisur zu richten.
War es verwerflich zu denken, dass er wirklich verdammt attraktiv war? Das war ja nicht meine Schuld...

Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung, wie er in solch einer Situation und vor allem nach solch einer Rede einfach loslachen konnte, aber es war wirklich irgendwie lustig.
Kopfschüttelnd stieß ich ihm mit dem Ellenbogen leicht in die Seite.
Ich war ihm nicht böse, viel mehr war ich erleichtert darüber, dass er Geschehenes so locker nehmen und offensichtlich sogar darüber lachen konnte.

„Na gut. Es ist alles gut, Newt. Du musst Thomas nichts erklären.
Es ist immer hin nichts passiert, du wolltest mir sicher nur danken dafür, dass ich dich geweckt hab, richtig?
Wir sind ... Freunde und unter Freunden kann sowas ganz schnell passieren und es ändert ja nichts an uns, also, nicht der Rede wert."
Ich konnte mir selbst kaum abkaufen, was ich da laberte. Nicht, weil es alles gelogen war, sondern, weil ich es überhaupt nicht überzeugt zu Wort brachte.

Aber der Blonde verstand, dass ich nicht weiter darauf eingehen wollte. Es hatte ihm wahrscheinlich auch einfach gereicht, dass wir friedlich darüber reden konnten und das Thema jetzt mehr oder weniger aus der Welt geschafft war.
„Tust du mir einen Gefallen?", ergänzte ich dann ruhiger, was dazu führte, dass auch Newt aufhörte zu grinsen und zuverlässig nickte.
„Bitte lass mich mit der Sache mit Gally und Sol umgehen, ja? Bitte sag keinem was."

„Du musst da nicht alleine durch, Vi.", entgegnete er sofort gutmütig und ich wusste auch, dass er alles wirklich gut meinte, doch ich wollte das mit meiner Schwester alleine klären... oder vielleicht gar nicht klären.
Meine Antwort darauf verdeutlichte ich ihm bloß mit einem sanften Kopfschütteln und eine Sache, die ich schon immer an Newt zu schätzen wusste: er respektierte meine Entscheidungen.
Eine wirklich schöne, friedliche Atmosphäre entstand zwischen uns, obwohl es noch so vieles gab, was mit uns nicht stimmte.

„Hast du manchmal auch Angst davor, wie es weitergehen soll?", murmelte ich nach einer Weile vor mich hin, nachdem ich das merkwürdige Gefühl verspürte, meine ganze Seele auszuschütten.
Es war so ungewöhnlich. Ich erinnerte mich kaum an eine Zeit, in der Newt und ich nicht zusammen gewesen waren und vernünftig und offen miteinander reden konnte. Falls es diese Zeit überhaupt gab.

„Was meinst du?" Aufmerksam blickte der Blonde zu mir hinüber und stützte sein Gesicht auf seinen Händen ab.
„All diese Kinder hier, wir inklusive.. wir haben es zwar lebendig da raus geschafft, aber was ist mit unseren Erinnerungen?
Wie sollen wir nach allem, was wir erlebt haben jemals ein normales Leben führen können? Wie viel Boshaftes kann ein Mensch durchlebt haben, bis er selbst..."

„Böse wird?", vollendete Newt meinen Gedanken und hob gespannt die Augenbrauen. Er sah mich weder verurteilend, noch belustigt an, glücklicherweise.
Er hatte etwas ausgesprochen, was ich mich selbst nicht getraut hatte und ich wusste nicht mal wieso. In mir schlich sich bei dem Gedanken eine unangenehme Angst ein, ich bekam richtig Gänsehaut davon.
Ich sah, wie sich mein Gesprächspartner und - anscheinend Teilzeit-Therapeut zu mir hinüber drehte und ich es ihm völlig wie selbstverständlich nachtat.
Plötzlich beugte sich der Ältere ein wenig zu mir hinüber, um mir noch tiefer in die Augen blicken zu können, während er nach meinen Händen griff und sie sanft in seinen hielt. Und komischerweise machte es mir nichts aus. Ich fühlte mich... geborgen.

„Jede einzelne Person, die hier ist hat Unaussprechliches erlebt, da hast du recht.
Und wir werden uns vielleicht niemals vollständig davon erholen können, aber das heißt nicht, dass wir kein gutes Leben führen können.
Das Leben geht sowieso weiter und wir können es nicht aufhalten, wir sind doch immer noch wir, Vi.
Uns war doch schon damals auf der Lichtung klar, dass wir nicht einfach so weiter machen könnten, als wäre gar nichts passiert, aber uns war auch klar, dass es unsere Aufgabe sein wird, unser so hart erkämpftes, freies Leben zu genießen. Das sind wir denjenigen schuldig, die nicht mehr bei uns sein können.
Und eine ganz wichtige Sache: du bist nicht dein Vater, Violet.
Uns ist so viel Böses passiert, aber wie wir werden und was wir tun, das sind allein unsere Entscheidungen."

Violet 3 - The Death Cure Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt