»Ich weiß wirklich nicht was das soll«, war das Erste, womit Jonathan begrüßt wurde, nachdem er endlich die Adresse fand. Isobel Scott wohnte in einem kleinen, leicht zu übersehenden ramponierten Haus, an der Grenze zu White Chapel. »Vorher hat sich nämlich keiner dafür interessiert.«
»Jetzt tun wir es.« Er versuchte, höflich zu klingen. Auch wenn ihm nicht danach war. »Sollte Sie das nicht freuen?«
Isobel schnaubte. »Worüber genau, sollte ich mich freuen? Dass Scotland Yard endlich ihren Hintern hoch bekommt? Das hätte eigentlich schon längst passieren müssen. Aber an uns kleinen Leuten ist man ja nicht interessiert!«
Jonathan atmete tief durch.
»Und überhaupt: Du siehst für mich gar nicht aus wie einer von denen«, fuhr Isobel fort.
Er überlegte, ob es eine gute Idee wäre, sie darauf hinzuweisen, dass sie ihn als Respektsperson höflicher ansprechen sollte oder ob das ihr Gespräch nur schwieriger machen würde. In der Zeit, in der er darüber nachdachte, fischte er seine Marke aus seiner Hemdtasche und zeigte sie ihr.
»Na schön.« Isobel hielt ihm die Tür auf. »Dann komm mal rein. Tee hab ich aber keinen da.«
Den hätte er hier auch nicht trinken wollen. Doch das verkniff er sich ihr zu sagen. »Nicht schlimm.«
»Gut.« Sie nickte zufrieden. »Was willst du wissen? Ich nehme an, es geht um die Castlewoods?«
»So ist es«, bestätigte er. »Können Sie mir etwas zu diesen Leuten sagen?«
»Reiche Affen sind das«, kam die prompte Antwort.
Jonathan räusperte sich.
»Tschuldigung.« Isobel verdrehte die Augen. »Ist aber halt so.«
»Ich habe gehört, dass Sie gekündigt wurden wegen der Beschuldigung des Diebstahls«, versuchte es Jonathan nochmal und sah sie auffordernd an.
»Ja.« Isobel nickte. »Wie alle anderen.«
»Haben Sie denn etwas gestohlen?«, hakte er nach. »Oder einer der anderen?«
»Nee. Ich nicht. Was die anderen angeht: Keine Ahnung«, antwortete Isobel. »Aber im Nachhinein denke ich, dass ich das hätte tun sollen. Hätte sowieso keinen Unterschied gemacht.«
»Das sehe ich anders«, entgegnete er streng.
»Klar, du bist ja auch ein Bobby.« Sie nahm einen Schluck aus einem Schnapsglas. Woher das auf einmal kam, konnte er sich nicht erklären. »Es ist quasi dein Beruf das nicht so zu sehen.«
Jetzt wurde es ihm doch zu bunt. »Mit allem gebotenem Respekt Miss. Würden Sie mich bitte nicht ansprechen, wie irgendeinen Kerl, dem sie auf der Straße begegnen«, fauchte er sie an.
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Schon gut... Sir.«
Jonathan seufzte, korrigierte sie aber nicht. Ihm kam der Verdacht, dass die Castlewoods sie so oder so früher oder später allein wegen ihres Verhaltens gekündigt hätten. »Also?«
»Die hohe Herrschaft war schon seltsam«, meinte Isobel nach einem weiteren Schluck Schnaps. »Besonders der junge Herr.«
»Der junge Herr?«, fragte er überrascht. »Reden Sie von Damien Castlewood?«
»Genau von dem«, antwortete Isobel. »Der war immer etwas seltsam. Haben auch die anderen gesagt.«
»Inwiefern seltsam?«, erkundigte Jonathan sich ungeduldig bei ihr. »Geht es auch ein bisschen genauer?«
Sie verdrehte die Augen. »Na ja. Er ist abgehoben, wie so alle feinen Herrschaften. Und seine Wutausbrüche und Durchtriebenheit haben alle bei uns erzittern lassen«, erzählte sie. »Außerdem habe ich noch nie zuvor jemanden so manipulatives erlebt.«
Jonathan fühlte wie ihm trotz der Wärme in diesem Haus, eine Gänsehaut beschlich. Genau mit diesem Mann war Katie jetzt zusammen. Wenn das mal gut ging.
»Geht es Ihnen gut, Sir?«, hörte er Isobel fragen. »Sie sehen aus als bräuchten Sie einen Schnaps.«
Er winkte ab. »Nicht nötig. Außerdem bin ich im Dienst.«
»Wenn Sie meinen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist Ihre Entscheidung.«
»Eben.« Jonathan straffte seine Schultern und atmete tief durch. »Was genau meinen Sie denn mit manipulativ?«, wollte er aber dennoch wissen.
»Na, er hat mit allen gespielt. Mit mir und der gesamten Dienerschaft«, sagte Isobel. »Wenn Sie wissen, was ich meine.« Sie zwinkerte ihm vielsagend zu. »Nicht, dass ich stolz drauf wäre.«
Jonathan fühlte, wie sich Übelkeit in ihm aufstieg. »Die gesamte Dienerschaft?«, wiederholte er.
»Na ja. Nicht die ganze Dienerschaft«, gab Isobel zu. »Aber zumindest die meisten von uns Frauen.«
»Seine Eltern haben nichts dazu gesagt?« Er räusperte sich.
Sie schnaubte abfällig. »Der alte Castlewood war doch selbst auch nicht viel besser«, entgegnete sie. »Hab ich jedenfalls gehört.«
»Von wem genau?«, erkundigte Jonathan sich. »Na auch von den anderen. Denjenigen, die schon länger dort im Dienst standen. Was aber ehrlich gesagt, nicht so viele sind. Oh, und vom jungen Herrn.«
Das verwunderte ihn jetzt doch. »Er hat also kein gutes Verhältnis mit seinem Vater?«
Isobel schnaubte. »Keine Ahnung.«
Jonathan seufzte. »Was ist mit der Dame des Hauses? Seiner Mutter?«
»Sie haben wir nicht oft gesehen. Es ging aber das Gerücht unter den Hausdienern, dass sie mit der Situation nicht unzufrieden war. Ihre Plicht für die Familie und deren Zukunft hat sie schließlich getan.«
Jonathan nickte, zum Zeichen, dass er verstand, wovon Isobel sprach. In so alten Familien, wie zum Beispiel die der Castlewoods, gab es nichts Wichtigeres, als die Blutlinie fortzuführen. Aber auch wenn es offiziell nur Damien als Erben gab, falls es stimmte, was Isobel über diesen und dessen Vater sagte, dann war der Fortbestand der Familie definitiv gesichert. Er räusperte sich diskret. »Und Sie hatten aber kein Problem damit bekommen das Damien Sie...«
Isobel lachte auf. Fröhlich klang es jedoch nicht. »Gerade wir Frauen hier im East End wissen ganz genau, wie man durch solche Probleme keine Probleme bekommt.«
Jonathan schluckte hart. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Vielleicht war er einfach zu behütet aufgewachsen, schoss es ihm kurz durch den Kopf. »Und als was arbeiten Sie jetzt?«, erkundigte er sich schließlich. Auch wenn er schon ahnte, was die Antwort darauf sein würde.
»Ich arbeite bei der Frau Lady«, kam er prompt ins Gesicht gesagt.
Jonathan blinzelte irritiert. »Bei wem?«
Sie lachte wieder. Doch diesmal klang es tatsächlich belustigt. »Sie sind hier noch nicht lange im Dienst, wie? Eigentlich kennen nämlich alle Männer dieses Haus.«
»Also doch ein Freudenhaus«, murmelte Jonathan und notierte sich auch das.
»Das ist etwas gestelzt ausgedrückt, aber ja«, bestätigte sie.
Er runzelte die Stirn. »Ich dachte immer, dass solche Etablissements nur von Männern geleitet werden.«
»Eta was?« Isobel sah ihn irritiert an. »Haben Sie uns etwa gerade beleidigt?«
»Solche Häuser, wie das in dem Sie zur Zeit arbeiten«, sagte Jonathan. »Und nein, das habe ich nicht. Dieses Wort ist lediglich ein französischer Begriff.«
Der Blick, mit dem sie ihn ansah, machte deutlich, dass sie ihm kein Wort glaubte. Aber das war ihm egal. »Sie leben wirklich in einer anderen Welt, Sir.«
»Oh, von wegen andere Welt«, fuhr Isobel fort, da er nichts darauf entgegnete. »Wenn Sie die ganzen Fälle von uns aufrollen, sollten Sie mal mit Elisabeth Thornton sprechen, Sir.«
»Wer ist das?«, aufmerksam sah Jonathan sie an.
»Wir haben sie immer eine Heilige genannt.« Isobel verdrehte die Augen. »Sie war die einzige die von der Dame des Hauses eingestellt wurde. Und ebenso die Einzige, die nichts mit dem jungen Herrn oder dem alten Lord hatte. Was sie schon irgendwie besonders macht.«
Jonathan zog den Zettel mit den Namen, die er sich zuvor gemacht hatte aus der Tasche. Eine Elisabeth Thornton stand nicht darauf.
»Sie wurde nicht gekündigt«, meinte Isobel, der sein Blick nicht entgangen war. »Vermutlich schafft sie bis an ihr Lebensende dort.«
»Das hört sich an, als wäre sie etwas besonderes«, meinte Jonathan. »Sie wissen nicht zufällig, wo sie sich zur Zeit aufhält?«
»Na im Herrenhaus, denke ich«, antwortete Isobel sofort. »Aber das dürfte kein Problem für Sie sein, oder Sir?«
»Nein.« Abgesehen davon, dass sich Katie vermutlich gerade auf dem Anwesen der Castlewoods aufhielt. Was dies definitiv verkomplizierte. Aber das ging Isobel nichts an. Wie er weiter vorging, musste er ohnehin mit Inspektor Lansbury absprechen. Vielleicht hatte dieser inzwischen auch endlich Neuigkeiten. Das wäre jedenfalls wünschenswert. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei mir oder Inspektor Lansbury«, bat er sie.
»Na klar.«
Jonathan konnte ihr ansehen, dass sie weder das Eine, noch das Andere tun würde.
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Das Geheimnis der Zwölf
Ficción histórica*Longlist Wattys2018* England, Anno Domini 1890 Jonathan Hobbs fängt neu in der Polizeistation im East End an, wo die Begrüßung erst einmal nicht besonders freundlich ausfällt. Als er dann durch Zufall wenige Tage später Katharine "Katie" McKenzie k...