Anno Domini 1890
England, London – Villa der Familie McKenzie
»Was habt Ihr da gerade gesagt?«, fragte Jonathan Frank McKenzie, nachdem der seinen Bericht beendete. Jonathan wusste nicht warum, aber mit einem Mal fühlte er sich schwindelig. »Landesverrat? Ist das Euer Ernst?«
Frank nickte ernst. »So hat es sich für mich angehört, ja.«
»Habt ihr es damals zur Anzeige gebracht?«, erkundigte sich Jonathan bei ihm. »Bestimmt, oder?«
Frank schüttelte seinen Kopf. »Nein.«
»Aber warum?«, wollte Jonathan nahezu fassungslos wissen. »Es geht hier nicht um irgendein Verbrechen! Sondern um Landesverrat. Das hättet Ihr melden müssen, das ist Euch doch klar, oder?«
»Was hätte ich denn sagen sollen?«, erkundigte Frank sich. »Das ich erfahren habe, dass es eine geheime Organisation gibt, die plant nach der Herrschaft über das vereinigte Königreich zu greifen?« Frank schnaubte. »Ihr merkt selbst, wie närrisch sich das anhört, oder?«
»Ihr wisst aber auch, das in zehn Jahren viel passieren kann, nicht wahr?«, wollte nun auch Arthur wissen, der bisher nichts gesagt und nur zugehört hatte. »Zu viel.«
»Das ist mir inzwischen auch bewusst geworden, ganz besonders jetzt, nachdem Sie und Katie auf die Leiche des bedauernswerten Mädchens gestoßen seid.« Frank räusperte sich. »Nun ist es mein oberstes Ziel meine Familie zu schützen. Das war es schon immer.«
»Ich verstehe«, sagte Arthur und seufzte.
Jonathan nickte ebenfalls, zum Zeichen, das auch begriffen hatte. Es war wahr. Er verstand durchaus, wovon Frank McKenzie sprach, doch das hieß lange nicht, dass er es gut hieß, dass dieser so lang geschwiegen hatte. Denn es stimmte. Eine schwerwiegende Behauptung aufzuführen, wie Landesverrat es war, ohne Beweise zu haben wäre vermutlich nach hinten losgegangen. Und vor allem hätte es für Gerede gesorgt, keines der guten Sorte. Im Gegenteil. Es wäre vermutlich sogar rufschädigend für Frank McKenzie gewesen. Der andere, Carter, hätte dagegen als unschuldig da gestanden, denn mit Sicherheit hätte er, selbst wenn es zu einer polizeilichen Untersuchung gekommen wäre, nichts eingestanden. Und der Rat der Zwölf, je nachdem wie mächtig er damals war, wäre in Aktion getreten. Wer wusste schon, was danach geschehen wäre. Sicherlich nichts Gutes.
»Ich sehe, Sie verstehen, wovon ich rede«, unterbrach Frank Jonathan in seinen Gedanken. »Das freut mich.«
»Mich nicht«, entgegnete Jonathan. »Denn wenn Ihr schon vor zehn Jahren nichts unternehmen konntet, wird es wohl heute nicht anders sein.«
»Dem stimme ich nicht zu. Jedenfalls nicht ganz«, sagte Frank. »Denn es haben sich doch einige Dinge inzwischen verändert.«
»Das was sich aber nicht verändert hat, ist, dass es dieser Rat der Zwölf offiziell nicht existiert«, erinnerte Arthur ihn. »Was alles deutlich komplizierter macht.« Er seufzte. »Das einzige was sich sagen lässt, ist, dass sie aus zwölf Personen bestehen und dieser Carter damit zu tun hat. Aber selbst das ist nicht sicher.«
»Wer ist Carter überhaupt? Wissen Sie mehr von ihm? Er scheint, nachdem was Sie uns erzählt haben, einen hohen gesellschaftlichen Rang zu haben«, überlegte Jonathan.
»Seinen genauen Rang kenne ich leider nicht. Zudem hat er sich inzwischen wahrscheinlich auch geändert«, antwortete Frank. »Aber es war anscheinend hoch genug, dass er seine Nase immer bis hoch in den Himmel getragen hat, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nur zu gut«, stimmte Arthur ihm zu, bevor Jonathan die Möglichkeit hatte etwas zu sagen. »Es ist oft leichter mit den einfachen Leuten zu sprechen. Und meistens auch deutlich Aufschlussreicher.«
»Wie kann das sein?«, wollte Jonathan wissen und blickte Arthur fragend an.
Der lachte kurz auf. »Das werden Sie merken, sobald Sie erstmal ein paar Jahre bei uns sind«, meinte Arthur. »Es ist immer wieder überraschend, was einfachen Leuten auffällt, wenn plötzlich die Routine ihres Tagesablaufs unterbrochen wird. Und sei es nur eine Kleinigkeit, die sich ändert. Und das sorgt schnell für Gerede.«
Jonathan begann zu verstehen. »Das macht Sinn«, stimmte er Arthur zu. Er dachte kurz nach. »Was ist mit diesem Mr. Goldstein? Habt Ihr noch mit ihm Kontakt? Vielleicht weiß er ja etwas mehr über Carter?«
»Das kann natürlich sein«, bestätigte Frank. »Doch so viel Kontakt, wie damals, habe ich mit Goldstein schon länger nicht mehr. Zudem ist die einzige Adresse von ihm, die ich besitze, eine aus Edinburgh. Man müsste also hoffen, dass er noch immer dort wohnt.«
»Stimmt. Das macht es tatsächlich nicht einfacher«, meinte Arthur. »Von London bis Edinburgh dauert eine Fahrt mit der Postkutsche mindestens zehn Tage. Mit Pech sogar etwas mehr.« Er seufzte. »Inspektor Lansbury wird uns den Kopf abreißen, wenn wir mit solch einem Vorschlag zu ihm kommen.«
»Aber das müssen wir gar nicht, oder?«, fragte Jonathan. »Wir können ihm doch auch telegrafieren«, erklärte er dann, als er die irritierten Blicke bemerkte. »Oder wir benutzen einen dieser Fernsprecher.«
Arthur schüttelte den Kopf. »Haben Sie denn schon einmal eines dieser Dinge benutzt, Hobbs?«, wollte er wissen.
»Einen Telegrafen, ja«, antwortete Jonathan. »Mit einem Fernsprecher habe ich jedoch bis jetzt keine Erfahrung gesammelt und kenne mich daher damit leider noch nicht aus.«
»Die Frage ist nur, wie wir an ihn telegrafieren, oder? Immerhin wissen wir nicht, ob er überhaupt dort wohnt«, sagte Arthur.
»Wenn wir nichts unternehmen, kommen wir gar nicht weiter«, erinnerte Jonathan ihn. »Ich würde also vorschlagen, dass wir uns an das Postamt oder eines der Polizeiämter wenden. Das dürfte in Ordnung gehen.«
»Vermutlich werden Sie dennoch etwas Überzeugungsarbeit leisten müssen«, meinte Frank nachdenklich. »Wenn ich mich richtig daran erinnere, ist Inspektor Lansbury alles andere als begeistert von dieser Technologie.« Er räusperte sich kurz. »Aber ich werde Sie gerne unterstützen, Hobbs.«
»Das stimmt«, bestätigte Arthur. »Man könnte sogar sagen, dass er es meidet wie der Teufel das Weihwasser.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Na also, da haben wir es schon. Dann wird es wohl wirklich besser sein, wenn ich Sie begleite«, wandte Frank sich an Jonathan. »Arthur kann in der Zwischenzeit ja darauf achten, dass Katie nichts Verrücktes anstellt.«
»Natürlich, Sir«, Arthur nickte und wechselte stumm und möglichst unauffällig einen Blick mit Jonathan. Immerhin war es längst zu spät. Gerade jetzt da Katie, ohne Wissen ihres Vaters, unterwegs war um sich mit den anderen Mädchen und »Arbeitskolleginnen« von Annie zu unterhalten, ob und was diese über die vergangenen Geschehnisse wussten. Was bei ihrem Vater durchaus vermutlich unter verrückt fiel.
»Wo wir gerade darüber reden: Wo ist Katie?«, erkundigte sich Frank in genau diesem Moment. »Es ist zur Zeit erstaunlich ruhig. Das kann nichts Gutes verheißen.«
»Ich werde gleich mal nachsehen, ob sie nicht in ihrem Zimmer ist«, meinte Arthur. »Ihr beide könnt ja schonmal rüber gehen und mit Inspektor Lansbury alles besprechen. Je früher wir erfahren, ob wir mit diesem Mr. Goldstein in Kontakt treten können, desto besser. Oder nicht?«
Jonathan seufzte leise, nickte aber. »Ja, wahrscheinlich ist das tatsächlich am besten«, stimmte er Arthur zu und hoffte inständig, dass sie Katie nicht über den Weg liefen. Denn sollte das doch passieren, konnte das extrem peinlich werden. Für jeden von ihnen. Und das musste nun wirklich nicht sein.
Frank, der nichts von alldem ahnte, nickte zufrieden. »Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, er blickte auf seine Taschenuhr. »Das möglichst bald, sonst gibt es kaum ein Durchkommen auf den Straßen.«
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Das Geheimnis der Zwölf
Fiksi Sejarah*Longlist Wattys2018* England, Anno Domini 1890 Jonathan Hobbs fängt neu in der Polizeistation im East End an, wo die Begrüßung erst einmal nicht besonders freundlich ausfällt. Als er dann durch Zufall wenige Tage später Katharine "Katie" McKenzie k...