Kapitel 3

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Ben's Sicht

Die zwei Mädels sind bereits schlafen gegangen, während wir Älteren hier noch im Wohnzimmer sitzen und quatschen. „Alex, du solltest es schon wissen, aber ich denke ihr wisst es noch nicht." meine ich zu Levin und Arian. Beide schauen mich fragend an. „Vorhin wurde Liora's Mutter für hirntot erklärt. Sie hatte schwerwiegende Kopfverletzungen, die dazu geführt haben. Liora weiß davon noch nichts. Ich wollte mit ihr morgen darüber reden. Der Zustand von ihrem Vater ist weiterhin unverändert. Er liegt nach wie vor im Koma." spreche ich bedrückt. Morgen diese Nachricht an Liora zu überbringen, wird alles andere als leicht werden. Sie ist sowieso schon sehr in sich gekehrt und spricht kaum etwas. Ich habe die Befürchtung, dass es durch diese Nachricht noch schlimmer wird. Hoffentlich habe ich damit nicht recht.

„Alex, könntest du morgen für mich meine Schicht im Krankenhaus übernehmen?" frage ich nach einiger Zeit der Stille. Alle blicken nur nachdenklich vor sich hin. „Ja, natürlich." antwortet mein bester Freund sogleich. Dankbar schaue ich ihn an. „Wirst du einen Psychologen hinzuziehen?" fragt er dann. „Ich denke, dass das keine schlechte Idee ist. Sie muss gerade sehr viel verarbeiten." spricht Alex weiter. „Ich habe daran auch schon gedacht. Ich werde mal mit Dr. Becker sprechen. Er kann sehr gut mit Kindern und Jugendlichen umgehen und Tiana hilft er auch sehr gut." meine ich zustimmend.

Wir unterhalten uns ein wenig, bis wir alle in unsere Zimmer verkriechen und schlafen gehen. Das war zumindest mein Plan. Als ich am Gästezimmer vorbeikomme, in dem Liora zurzeit schläft, höre ich ein Wimmern. Sofort stoppe ich in meiner Bewegung und gehe näher an die Tür. Leicht klopfe ich an die Tür, doch wie zu erwarten, kommt keine Antwort von drinnen. Daraufhin öffne ich die Zimmertür. Der Anblick, der mich erwartet, zerbricht mir das Herz. Liora sitzt in der letzten Ecke des Raumes. Sie macht sich so klein, wie sie nur kann. Das kleine Mädchen zittert am ganzen Körper. Immer mehr Tränen fließen aus ihren Augen.

Sofort begebe ich mich zu ihr. „Hey, was ist denn los?" sage ich sanft und knie mich zu ihr. Von Liora hört man nichts, abgesehen von ihren Schluchzern. Langsam, damit ich sie nicht erschrecke, setze ich mich direkt neben Liora. Behutsam lege ich ihr meinem Arm um ihre Schultern und ziehe sie etwas näher zu meinem Körper. „Shhh. Alles wird wieder gut. Versuch mal etwas langsamer zu atmen. Bekommst du das für mich hin?" rede ich beruhigend auf sie ein. Immer wieder entkommen ihr laute Schluchzer. Sanft streiche ich mit dem Daumen ihre Tränen weg, was jedoch nicht viel bringt, denn es kommen sofort wieder neue Tränen. „Ganz ruhig, Liora. Du bist hier bei uns in Sicherheit und ich verspreche die, ich werde mich immer um dich kümmern. Es ist alles gut." sage ich mit ruhiger Stimme.

Nach einiger Zeit beruhigt sich das kleine Mädchen. „Willst du heute bei mir schlafen?" frage ich mit einem besorgten Blick. Lio bereitet mir wirklich Sorgen. Zögerlich nickt sie. Daraufhin hebe ich sie hoch und gehe mit ihr in den Armen in mein Zimmer. Ich lege Liora in mein Bett und decke sie mit der Bettdecke zu. Schnell ziehe ich mir noch eine Jogginghose an, bevor ich mich auch in das Bett lege. „Gute Nacht, Süße. Ich bin bei dir. Dir kann nichts passieren." sage ich, da ich merke, dass Lio immer noch leicht am Zittern ist. Ich bleibe noch so lange wach, bis ich mir sicher bin, dass sie eingeschlafen ist.

Am nächsten Morgen werde ich von der aufgehenden Sonne geweckt. Sofort kommt mir wieder die letzte Nacht in den Sinn. Augenblicklich schaue ich auf die kleine Liora, die aber friedlich schlafend neben mir im Bett liegt. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich dafür eine kurze kalte Dusche zu nehmen und mich danach für den heutigen Tag fertig zu machen.

Heute ist der Tag, an dem ich Lio beichten muss, dass ihre Mama gestorben ist. Das wird nicht leicht werden. Ich hoffe, Liora öffnet sich etwas mehr und redet mit mir. Ich habe Angst, dass sie nach dieser Nachricht noch stiller wird und keinem mehr an sich ranlässt. Außerdem trinkt und isst sie bereits schon so wenig, da kann ich nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer wird.

Meine ganzen Gedanken drehen sich darum, wie ich ihr diese schreckliche Nachricht überbringen soll. Natürlich musste ich schon öfters Angehörige darüber informieren, dass deren geliebte Person leider verstorben ist, aber die Situation hier gerade, ist eine völlig andere. Liora ist mir ans Herz gewachsen. Sie lebt mittlerweile bei uns. Normalerweise übermittle ich die Todesnachricht, bleibe dann noch kurz bei den Betroffenen, um sicherzugehen, dass sie alles gut verkraftet und verstanden haben. Hin und wieder kontaktiere ich den psychologischen Dienst, aber das war es dann auch schon. Ich weiß nicht, wie es mit den Personen dann weitergeht. Wie ihr Leben weiter verläuft. Aber Liora ist das einfach anders. Bei ihr bekomme ich alles mit.

Ich werde heute definitiv noch Dr. Becker anrufen und ebenfalls mit ihm darüber reden, wie ich dieses Thema am besten ansprechen soll. Er kann mir bestimmt helfen und sagen, wie ich Liora diese Nachricht am rücksichtsvollsten überbringen kann. Außerdem will ich noch einem Termin für Liora bei ihm vereinbaren. Liora ist ein kleines, junges Mädchen. Sie muss das alles richtig verarbeiten und dabei kann ihr ein Psychologe am besten helfen.

Als ich wieder aus dem Badezimmer komme, sehe ich, dass Liora noch immer friedlich schläft. Ich entscheide mich also dazu, zuerst Frühstück für alle herzurichten. Sie kann den Schlaf gut gebrauchen, vor allem da sie die halbe Nacht wach war.

Gerade bin ich dabei Pancakes zu machen, als ich jemanden die Treppe hinuntergehen höre. Kurze Zeit später steht auch schon Tiana vor mir. „Guten Morgen!" sagt sie fröhlich. „Guten Morgen! Warum bist du denn schon so früh wach? Wir haben erst 7:00 Uhr morgens." sage ich verblüfft. Tiana ist normalerweise ein Langschläfer. Um sie so früh aus dem Bett zu bringen, braucht es einen Grund. „Ich muss mit Alex reden. Wo ist er?" fragt sie. „Tut mir leid, aber er hat heute die Schicht im Krankenhaus für mich übernommen. Ich kann dir nicht sagen, wann er wieder nach Hause kommen wird. Aber voraussichtlich erst ziemlich spät." antworte ich ihr. Schlagartig änder sich ihre gute Laune. „Na toll." meint sie genervt. „Kann ich dir vielleicht weiterhelfen?" frage ich nach. „Nein." sagt Tia, dreht sich um und verlässt die Küche wieder.

Komisch. Ich glaube, ich werde mich später noch einmal mit Tiana unterhalten. Die Pancahes sind kurz danach auch schon fertig, weshalb ich nach oben gehe und die Mädels hole. Zuerst gehe ich in mein Zimmer und wecke Liora sanft. „Hey Lio, aufwachen. Das Frühstück ist fertig." sage ich. Gähnend öffnet sie ihre Augen und sieht mich an. „Putz dir am besten schon mal die Zähne. Ich schaue in der Zeit nach Tia. Alle anderen sind heute arbeiten." meine ich und verlasse das Zimmer. „Tia, kommst du runter. Frühstück ist fertig." Mit diesen Worten trete ich in Tiana's Zimmer ein. Sie sitzt in ihrem Bett und es läuft natürlich Netflix. Seit sie hier bei uns ist, ist sie zu einem richtigen Netflix-Junkie geworden. Solange sich das in Grenzen hält, haben ich und auch die anderen nichts dagegen.

„Ich habe keinen Hunger." sagt Tia und schaut nur auf den Fernseher vor ihr. Kurzerhand nehme ich die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus. „Trotzdem kommst du bitte mit runter und isst etwas. Ich will da nicht schon wieder mit dir darüber diskutieren müssen." meine ich streng. Tiana ist eine Person, die man regelrecht zum Essen zwingen muss. Sie würde ansonsten viel zu wenig essen. Man muss sie immer erinnern und darauf achten, dass sie genügend Essen zu sich nimmt. Augenverdrehend steht Tiana schließlich doch auf und geht nach unten.

Ich schaue noch einmal zu Liora, die nachdenklich auf dem Bett sitzt. Ich knie mich vor sie und sehe sie besorgt an. „Was ist los, Süße?" frage ich, aber wie ich schon befürchtet habe, erhalte ich keine Antwort. „Na los, lass uns nach unten gehen. Tiana ist auch schon unten und wartet auf uns." meine ich. Gerade als ich aufstehen will, umschlingen mich plötzlich die kleinen, zarten Hände von Lio. „Soll ich dich tragen?" frage ich Liora, als sie keine Anstalten macht mich wieder loszulassen. „Ja." flüstert sie so leise, dass ich es kaum hören kann. Ich bin froh, dass sie redet, auch wenn es bloß ein Wort war. Es ist immerhin ein Fortschritt.

Twisted Life 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt