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Ich erwachte. Ich hörte einen Kamin neben mir Knistern. Lag auf einer Couch. Mir war warm. Nein, kalt. Beides gleichzeitig. Ich schlug die Augen auf. Neben mir Kniete ein Mädchen auf der Erde. Sie hatte blonde Engelslocken. Sie war noch jung. Sieben Jahre vielleicht. Sie sah mich mit großen blauen Augen an. Ich starrte auch sie an, dann sprang sie auf und fing auf und ab zu hüpfen sie rief aufgeregt:"Sie ist wach Großvater! Sie ist wach!" Das Geräusch ihrer Stimme war zu laut und schrill für mich, doch ich war zu schwach, um mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich hatte Halsschmerzen, sie zogen sich durch meine ganzen Lungenflügel, mein ganzer Körper tat weh und ich fühlte mich schwächer, als je zuvor.

Ein Mann kam aus einem kleinen Nebenraum gehumpelt. Er hatte drei Tassen in der Hand. Ich kannte den Mann. Mir klappte der Mund auf. Es war der Buchhändler! Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Ausflug mit meinem Vater, bis auf eine Stelle, sie war verschleiert und ich immer wenn ich sie greifen wollte, war sie an einen anderen Platz gerückt.doch diesen Mann erkannte ich ganz genau. Sein wirres Haar, die goldene, runde Brille, seine karge Gestalt, sein gekrümmter Rücken und die etwas zu großen, abstehenden Ohren. Ich keuchte kurz auf. Er schien mich nicht zu erkennen. Ich wollte ihm irgendetwas sagen, doch aus meinem Mund kam kein einziger Ton.
Er stellte die Tassen auf dem Tisch ab.

"Es ist wirklich erstaunlich, dass du da draußen durchgehalten hast. Du warst völlig unterkühlt, als wir dich reinholten. Ich bin Benjamin Reynold und das ist meine Enkelin Sissi", erklärte er mir, das Mädchen neben ihm nickte aufgeregt,"Darf ich fragen, wer Sie sind junge Frau?"
Ich sah ihn ungläubig an. Jeder kannte mich. Selbst in den abgelegensten Hütten müsste man eigentlich mein Gesicht kennen. Vor allem jetzt bei dem ganzen Pflichtfernsehen.

Sissi reichte mir ein Blatt Papier samt Stift. Mit zitternder Hand schrieb ich meinen Namen auf das Blatt und dem entsprechend sah es auch aus. Es war kaum zu entziffern. Ich reichte Ihnen den Zettel zurück.
Ohne ein weiteres Wort stand Benjamin auf und schaltete den Fernseher an. Gerade liefen Nachrichten. Es wurde von einer Entführung geredet. Meiner Entführung.

"Alle Programme sind den ganzen Tag schon damit voll. Ich nehme an, du wurdest nicht entführt?"
Resigniert schüttelte ich den Kopf.
Ich sah erstarrt auf den Fernseher, denn mein Vater war gerade in Erscheinung getreten. Er fing an zu reden:"Von meiner Tochter Harmonia Rose Ronald fehlt bis jetzt jede Spur. Es wird durchgehend nach ihr gesucht und ich bitte Sie inständig um ihre Hilfe, wenn Sie sie sehen oder wissen wo sie sich aufhält, benachrichtigen Sie umgehend die Polizei oder die Regierung."
Erschrocken blickte ich zu meinen Rettern, sie würden mich doch nicht verpfeifen. Oder?
Mein Vater fuhr fort:"Das letzte Mal fanden wir spuren von ihr fünfhundert Meter von der Heilungsanstalt entfernt. An dem Ort war wohl die nächste Aufgabe automatisch losgegangen. Trotz diesem Vorfall will ich Ihnen die Ergebnisse der Aufgabe natürlich nicht verheimlichen, ausgeschieden ist: Mark Werring. Unter den top fünf: Joshua Miller, Heather Monroe, Harmonia Rose Ronald, Kassandra Clair und Niff Lorenz. Die Punktzahlen werden verkündet, wenn unsere Prinzessin wieder auftaucht."
Ausgeschieden konnte man es auch nennen.... Er war tot. Warum sprachen Sie die Wahrheit nicht aus?
Ich dachte an seine Familie. Sie würden ohne ihn verloren sein. Für seine kleinen Geschwister gab es sicher nun keine Chance mehr auf eine gute Zukunft.
In diesem Moment fiel es mir schwer mein Versprechen einzuhalten und nicht laut los zu heulen.

Der Sender schaltete wieder auf das normale Programm um, doch noch immer lief unten ein Informationsfeld durch mit lauter Nummern die man anrufen sollte, wenn man mich sah.
Ich wagte es noch einmal zu sprechen:"Ihr verratet mich doch nicht, oder?" Meine Stimme war nur ein ganz leises Krächzen und zittrig von all meinen zerrissenen Gefühlen im Inneren.
Der Mann sah mich mit gerunzelter Stirn an. "Du wurdest also nicht entführt?"
Schnell schüttelte ich noch einmal den Kopf.
"Du bist auf der Flucht?"
Ich nickte.
"Und ich habe ihm nicht geglaubt", der alte Mann setzte sich auf einen Holzstuhl und stützte sein Gesicht in die Hände,"Mein Bruder hatte mir gesagt, dass du ein gutes Mädchen bist und ich habe ihm nicht geglaubt. Wo hast du die Sachen, die dir mein Zwillingsbruder gegeben hat?"
Was für Sachen sollte er mir gegeben haben? Ich hatte in diesem Buchladen- ich war mir sicher, dass er ihn meinte- nicht einmal etwas gekauft. "Es tut mir leid, ich weiß nicht was sie meinen", meinte ich entschuldigend.
Er nickt langsam und sieht mich eindringlich an.
Er erinnerte mich irgendwie an Geppetto aus Pinocchio. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam. Ich war gerade mal acht als ich das Buch gelesen hatte.
Nun sagte Sissi:"Wir verraten dich nicht. Oder Grandpa?"
"Nein, natürlich nicht. Was willst du jetzt machen, Harmonia? Wo wolltest du hin?", fragte mich ihr Großvater.
Ich räusperte mich. "Ich wollte... Ich wollte, diese Familie finden." Ich holte Marks Amulett hervor und klappte es auf.
Zornig riss es der alte Mann mir vom Hals und hielt es mir unter die Nase. "Woher hast du das?!", schrie er mich zornig an.
"Von Mark... Wir sind... Waren Freunde", verbesserte ich mich traurig.
Er sah mich mit riesigen Augen an:"Wo ist er?" Er wusste es bereits und doch wollte er, dass ich es aussprach. Ich schüttelte den Kopf. "Wo ist er?", fragte er wieder. Ich wimmerte und schüttelte wieder den Kopf. "Sag mir, wo er ist!"
"Grandpa... Lass sie. Siehst du nicht, wie schlecht es ihr geht?", Schritt Sissi ein. "Sie sieht aus wie eine wandelnde Leiche."
"Mark... Mark ist tot", murmelte ich dann leise, doch ich erlaubte mir immer noch nicht die Tränen über die Wangen Rollen zu lassen.
"Ich werde Luki losschicken, um sie zu benachrichtigen", meinte Sissi.
"Nein, nein, er würde den Sturm nicht überstehen. Ich fahre zu ihnen", erwiderte Benjamin.
Und da warf ich mich ein:"Dann komme ich mit. Ich schulde ihnen etwas. Ohne mich würde er noch leben..."
Sissi sah mich traurig an. Ich mochte die kleine. Sie war ein kleiner Engel. Nicht so wie ich mit sieben. Sie schien schon viel durchgemacht zu haben. Im Inneren war sie viel älter, als sie wirkte.
"Das geht nicht, du bist zu schwach", warf der Mann nun ein.
"Ist mir egal", ich sprang auf," Außerdem können Sie Sissi nicht mit mir hier alleine lassen. Dafür ist sie zu Jung."
Empört stemmte Sissi ihre Hönde in die Hüfte. "Ich bin älter als ich aussehe", meinte sie beleidigt.
"Davon bin ich überzeugt", entgegnete ich. "Dann gehen wir alle mit." Meinte ich da.
Sissi nickte begeistert:"Ich muss hier endlich mal wieder raus. Ich sitze hier jetzt schon drei Jahre fest."
"Na gut, aber zuerst muss ich noch mit jemandem Telefonieren. Ich bin in zehn Minuten wieder da",zeigte sich Benjamin einsichtig. Er verließ kurz den Raum zum Telefonieren.

Sissi rannte aufgeregt durch den Raum. "Wie alt bist du, Sissi?", fragte ich sie jetzt interessiert.
"Ich bin elf. Ob du es glaubst oder nicht."
"Wow, gibt es einen Grund, warum du so jung aussiehst?", entgegnete ich überrascht.
"Ja, ich hatte als ich noch ein Baby war eine schlimme Krankheit. Sie hat sich stark auf meine Entwicklung ausgewirkt, aber in meinem Kopf ist alles richtig. Nur damit wir uns nicht falsch verstehen", erklärte sie mir. Sie hatten wohl nicht besonders viel Geld, denn sonst hätten sie sicher Medikamente bekommen, die sie schnell wieder gesund gemacht hätten.
"Seid dem versteckt mein Großvater mich hier. Vorher haben wir in der Stadt gelebt", redete sie weiter.
"Wieso versteckt er sich?", fragte ich irritiert.
"Weißt du das nicht? Schwächliche Kinder werden aussortiert. Das heißt, sie werden getötet oder noch schlimmer, für Experimente genutzt."
Schon wieder etwas, das neu für mich war. Schon wieder etwas, das man mir verheimlicht hatte. Und schon wieder, hatte es mit uns Kindern zu tun.
"Das tut mir leid. Ich wünschte, mein Vater wäre nie an die Macht gekommen", erwiderte ich nun traurig.
Sie zuckte mit den Achseln. "Es ist ja nicht deine Schuld. Steh schonmal auf, damit wir sehen können, ob du überhaupt im Stande bist wegzufahren."
Ich stand auf, meine Knie zitterten, doch ich konnte mich halten. Es ging eigentlich. Aber mir tat trotzdem alles Weh und mir war warm und kalt, doch das versuchte ich so gut wie möglich zu ignorieren.
Sissi warf mir ein paar Sachen in die Arme. "Die gehörten meiner Mum, sie könnten dir einwenig zu groß sein, aber es wird schon reichen." Ich fragte sie lieber nicht wo ihre Eltern waren. Ich wollte nicht, dass schmerzliche Erinnerungen erweckt wurden. Deshalb nahm ich einfach nur die Sachen und zog mich hinter der Couch um. Die Sachen waren mir tatsächlich viel zu groß, was bei meiner jämmerlichen Größe von nicht mal 1.50 aber auch klar war.
Gerade als ich fertig war erschien Benjamin wieder aus dem anderen Zimmer, wahrscheinlich das Schlafzimmer.
"Wo fahren wir jetzt hin?", in der letzten Stunde hatte ich so viel geredet wie seit Wochen nicht mehr und meine Halsschmerzen würden mich auch nicht davon abhalten.
"In die Hauptstadt. Sie liegt fünf Stunden von hier entfernt", erwiderte Sissi.
Doch ihr Großvater warf ein:"Vorher muss ich noch wo anders hin. Ich muss jemanden bitten mal hier nach dem Land zu gucken und dann noch nach Brookswill, um etwas zu erledigen, wenn wir schon einmal so lange fahren."
Sissi stöhnte auf:"Aber das sind nochmal drei Stunden mehr!"
"Na und? Sei froh, dann siehst du noch mehr anderes."
Darauf sagte sie nichts mehr.
"Vergiss nicht Luki mit zu nehmen", wies ihr Großvater sie an. Hinter seinem Rücken ahmte sie ihn nach. Ich musste kurz lachen.
Sissi ging schnell aus der Haustür.

Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto und fuhren den holprigen Feldweg entlang.
Eben hatte ich noch so Sachen gefragt wie: Aber wird man uns nicht finden?
Wird man uns nicht aufhalten, weil wir mit einem Auto fahren?
Was ist mit dem Schnee? Bei Schnee muss man sich doch drinnen aufhalten.
Die beiden hatten nur gelacht und wir waren los gefahren.
Ich hatte nicht weiter nach gebohrt, sie wussten schon was sie taten.
Auf irgendeine Art und Weise freute ich mich über ihre Gesellschaft. Sie ließen mich nicht völlig in Selbstmitleid versinken, jedenfalls nicht so schnell. Doch bei dieser Autofahrt könnte man nur nachdenken. Etwas anderes gab es hier nicht zu tun.
Wie sich herausgestellt hatte, war Luki eine ziemlich schlaue Krähe, die wichtige Nachrichten überbringen konnte.

Als ich mich dabei ertappt, wie ich an Mark dachte schlug ich meinen Kopf an die kalte Scheibe, damit ich aufhörte.
Sissi fragte mich:"Was ist los?"
Ich antwortete ihr ehrlich:"Zu viele schlimme Gedanken in meinem Kopf."
Sie sah mich mitfühlend an. "Mir hilft es bei so etwas immer zu lesen. Hier, das ist eines meiner Lieblingsbücher." Sie reichte mir ein blaues Buch.
'Alice im Wunderland' irgendetwas sagte mir der Titel, doch ich wusste nicht was. Sissi sah mich neugierig an. Ich nahm das Buch und sagte:"Danke, geht mir genau so."
Ich fing an zu lesen und ließ mich ganz in den Kaninchenbau entführen.

Gezüchtet - Die VeränderungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt