KAPITEL 8 - 🎃

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dortmund, deutschland
31st oct (halloween)

point of view
mats

Ich kannte meine Grenzen nicht. In vielen Aspekten in meinem Leben kannte ich meine Grenzen nicht. Alkohol war ein Aspekt davon. Selbst mit Stützträndern alias Lukasz und Marcel schaffte ich es mich trotzdem so zu betrinken, dass ich nicht mehr Herr meiner Selbst war. Am nächsten Tag schämte ich mich dafür, auch wenn ich es niemals zugab.
Ich wusste auch jetzt schon, dass beim nächsten Aufeinandertreffen von Lukasz und mir eine lange Predigt auf mich wartete, so genervt, wie er mich ansah. Ich würde zickig werden, wenn er vor mir predigte, aber eigentlich war ich nur eifersüchtig, dass Marcel und Lukasz, vor allen Dingen letzterer, ihre Leben im Griff hatten und ich nicht einmal nur so tun konnte.
Ich hatte manchmal das Gefühl, als hätte meine Entwicklung in manchen Lebensteilen einfach irgendwann gestoppt. Ich war ein bisschen wie Peter Pan, nur war das alles weniger schön. Vielleicht war es deswegen so angenehm mit Jude zu sprechen. Weil ich ihm gegenüber nicht die Verantwortung spürte mich meinem Alter entsprechend zu verhalten.
"Siehst du, ich bin nicht der einzige mit Aladin Kostüm an Halloween!", erklärte Jude mir und zeigte mir das Pinterest Foto eines anderen Mannes im Aladin Kostüm. Ich verdrehte lachend meine Augen und sah dann auf Judes nahezu komplett nackten Oberkörper, wenn man die dünne weiße Weste ignorierte.
"Ist dir kalt?", fragte ich, als mir seine kleinen aufgestellten Armhärchen auffielen.
"Ein bisschen", murmelte er. Dann hörte ich Lukasz meinen Namen sagen und drehte meinen Kopf zum Polen.
"Was ist mit mir wieder?"
"Du kommst morgen nicht aus dem Bett!", meinte Lukasz und ich konnte die Verzweiflung gemischt mit dem Genervt-Sein in seinem Blick sehen und seinem Unterton hören. Ich kam damit nicht wirklich klar, deswegen versuchte ich dieses Thema zu umgehen, indem ich es schnell abhakte und mich schief grinsend zu Marcel wandte.
"Ach so, ja, ja, schon längst akzeptiert! Hab ihn schon vorgewarnt!"
"Solange ich es nicht bin, den du vorwarnst!", flüsterte Lukasz und trank wieder aus seinem Becher. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah zu Marcel, der Gio und Lukasz beobachtete, die heute ausgesprochen dicht beieinander saßen. Ich hatte am Beispiel von Jude und mir durchaus gemerkt, dass die Fahrstunden uns näher zusammenbrachten, aber dass Lukasz sich hatte so leicht von Gio aufschließen lassen, hatte ich nicht erwartet. Marcel oder mir hätte Lukasz schon längst einen Kommentar der Sorte entgegengewürgt: "Rück mir von der Pelle!"
Und sicher hätte er Marcel oder mich 2010 nicht nach drei Monaten des intensiveren Kontakts an den Tisch gebeten. Lukasz war kein wirklich zugänglicher Mensch. Er war reserviert, eigentlich mehr als nur das. Für 10 Jahre in Dortmund nannte er sehr wenige Menschen Freund und diese Distanz ging von ihm aus. Er sagte immer, er sei einfach ruhig, aber mit ruhig sein hatte das nichts zu tun. Er war verschlossen und ich fragte mich wirklich, was Gio getan hatte, um Lukasz so nah sein zu dürfen. Lukasz erlaubte das eigentlich nicht.
"Lukasz flirtet", nuschelte ich Marcel zu. Er sah auf mich herab und schüttelte seinen Kopf.
"Er passt nur auf Gio auf!", widersprach er mir. Ich zog meine Augen zusammen und beobachtete, wie Lukasz gerade Gio half das Jacket auszuziehen.
Er flirtete.
Und ich musste mich bewegen.
Ich sprang auf meine Beine und meinte: "Ich geh mich jetzt bewegen. Hüften schwingen und so!"
"Ich komm mit!", rief Jude und sprang auch auf. Sein nackter Oberkörper streifte seine Hand. Ich schluckte schwer und bemerkte einen warnenden Blick von Marcel in meinem Rücken.
Lukasz war Gio nah — ich dürfte Jude nah sein
"Let's go", meinte ich zu Jude und presste meine Hände auf seine Schultern. Seine Haut fühlte sich heiß unter meinen Handflächen an. Ich schob den Briten nach vorne und bemerkte, wie Marcel auch aufstand, als Jude und ich einen Meter nach vorne gemacht hatten.
"Warte kurz!", wies ich Jude an, der sofort stehen blieb, als hätte ich einen Stopp-Knopf gedrückt. Warum war er nicht beim Autofahren so einfach?
Ich ließ eine Hand auf seiner Schulter liegen und machte einen Ausfallschritt zu Marcel.
"Bleib gefälligst sitzen. Ich brauch keine Nanny!", keifte ich. Marcel schüttelte sofort seinen Kopf.
"Ich lass dich bestimmt nicht mit dem Jungen alleine!"
Ich wusste genau, was Marcel mir versuchte durch die Blume hindurch mitzuteilen: Er hatte Angst, dass ich Jude mit nach Hause nahm, wie eine junge Dame von der Frau. Das größte Problem an seinem Vorwurf war, dass ich wenig hatte, um ihn zu widerlegen. Ich hatte in dem vergangenen Jahr wirklich sensationelle Arbeit darin geleistet, dass ich ständig neben fremden Frauen wachwurde. Aber Jude war keine fremde Frau von der Bar und Marcel könnte ruhig ein bisschen mehr Vertrauen aufzeigen, dass mir das klar war.
"Ich gehe nur mit ihm tanzen!", versuchte ich ihm klarzumachen, aber er hatte nur ein emotionsloses Lachen für mich übrig.
"Mats, du gehst nie nur tanzen!"
"Vertrau mir mal!"
"Beweis mir heute, dass ich es kann, dann tue ich es beim nächsten Mal vielleicht!"
Ich schnaubte. Marcel nahm meinen Lebensstil auch nicht mehr so locker, wie er es einst getan hatte.
"Du bist albern!", beschwerte ich mich und wandte mich dann wieder Jude zu.
"Ignorier Marcel einfach!", murmelte ich und ging extra schnell, um Marcel zu entkommen, was mir aber nicht gelang. Ich zog mir die Kapuze meines Haus des Geldes Overalls über den Kopf, aber im Nachhinein war mir bewusst, dass ich dadurch auf der Tanzfläche eher mehr, als weniger auffiel.
Die Tanzfläche war gefüllt und Marcel setzte sich irgendwo auf einen Barhocker und beobachtete mich von der Position aus, während Jude zu tanzen begann. Er schien zu wissen, was der DJ gerade spielte, denn seine Lippen bewegten sich, aber in meinem Kopf waren alle Geräusche vermischt. Anstelle immer nüchterner zu werden, wurde ich immer betrunkener. Ich hatte meinen Peak des Abends noch nicht erreicht. Von Jude ließ ich mich einfach in die Bewegungen leiten. Ich konnte nicht gut tanzen, aber das schien den Jüngeren nicht zu stören.
Ich wusste nicht, wie lange Jude und ich tanzten, aber es musste relativ lange sein, denn irgendwann taten meine Beine weh und der Alkoholrausch verließ meinen Körper zunehmend mehr. Es gab zwei Wege: entweder es einfach geschehen lassen oder mehr trinken. Ich entschied mich für Ersteres und signalisierte das Jude, ehe ich zur Bar stürzte und zwei Tequila Shots bestellte.
"Mats, er ist ein Mitspieler!", hörte ich Marcel mit mahnender Stimme sagen, als er sich zu mir beugte. Ich ignorierte ihn und beobachtete den Barkeeper, der die Tequila Flasche aufdrehte. Weiter konnte ich meine Beobachtungen aber nicht fortführen, da Marcel mich unsanft am Kragen meines Overalls packte und zu sich zog.
"Ich schwöre dir Mats, reiß dich zusammen. Bau keine Scheiße mit dem Jungen. Wir decken deine fremden One Night Stands, aber wenn du deinen Mist ins Team bringst, kann ich dir nicht mehr helfen und Lukasz auch nicht. Der Junge ist 18 Jahre alt. Reiß dich am Riemen!", keifte Marcel und sah mich streng an. Für eine ganze Weile erwiderte ich den intensiven Augenkontakt, dann riss ich mich von ihm los.
Ich hasste es, dass ich Marcel und Lukasz so viel zu verdanken hatte, sonst wäre es leichter sie einfach zu ignorieren.
"Ich tanze nur!", wiederholte ich mein Argument von vorhin und nahm die beiden Tequila Shots. Marcel presste seine Lippen aufeinander und sah mir böse hinterher, wie ich wieder zu Jude stieß.
"Worauf trinken wir?", rief ich ihm über die Musik hinweg zu. Jude zuckte mit den Achseln und hob dann sein Shotglas.
"Auf eine gute Nacht?"
was auch immer das bedeutete
Ich stieß mit ihm an und kippte den Tequila dann meinen Rachen runter. Es dauerte nicht lange, bis es seine erhoffte Wirkung zeigte und Jude und ich wieder wild tanzten. Jude legte irgendwann einen Arm um meinen Nacken und zog mich dicht zu sich. Nur tanzen, wiederholte ich in Gedanken und trat einen Schritt zurück. Ich konnte ihm nicht so nah kommen. Heute musste ich meine Grenzen kennen.
Aber Jude kannte sie scheinbar nicht. Denn er legte einfach wieder einen Arm um meinen Nacken und zog mich zu sich. Und beim zweiten Mal fiel es mir fiel schwerer von ihm loszukommen. Mein Blick wanderte über seinen nackten Oberkörper, wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hob, die Schattierungen seines Sixpacks. Ich schluckte schwer. Zu behaupten, dass ich Jude nicht Näherkommen wollte, war eine Lüge. Alles in mir kribbelte ihn zu berühren. Aber ich musste heute wirklich meine Grenzen kennen.
Er war ein Mitspieler.
Er war erst 18.
Ich spürte Judes Kopf, der mir näher kam und als sich unsere Nasenspitzen berührten, wusste ich, was normalerweise folgte, aber das erste Mal seit langer Zeit wich ich zurück. Ich sah Jude in die Augen, der wohl sichtlich überrascht war, dass ich Abstand zwischen uns brachte. Er tat mir leid. Es lag nicht an ihm. Es lag an mir.
Im dunklen Licht des Clubs wirkte er noch viel anziehender, als sonst und die innere Kraft ihn doch zu küssen, war stark. Aber mein Verstand war stärker. Ich schob Jude an seiner Hüfte zurück und schüttelte meinen Kopf.
Und damit war es das mit unserem Tanz gewesen. Ich zeigte ihm die kalte Schulter, indem ich die Tanzfläche verließ. Aber ich konnte nicht in seinem unmittelbarem Umkreis bleiben. Er war betrunken und ich war unvorhersehbar.
"Da bist du ja. Ich hab dich auf der Tanzfläche verloren!", war Marcels erster Kommentar, als ich mich mit den Hüften gegen die Theke fallen ließ. Ich sah zu ihm.
"Wir sollten Heim!", befand ich. Marcel war bereit heimzugehen, das wusste ich.
"Kann ich dir vertrauen, dass du keinen Mist baust, wenn ich jetzt aufstehe und Vladi Bescheid gebe?", fragte er und war schon mit einem Fuß vom Barhocker runter. Ich nickte, stellte mich einige Sekunden lang seinem prüfenden Blick und beobachtete dann, wie er nach draußen zu Lukasz verschwand.
Mein Blick glitt wieder über die Tanzfläche und kreuzte den von Jude. Er stand bei Erling und Jadon und sah mich fragend an. Er verstand die Welt nicht mehr. Ich verstand sie selbst nicht so ganz. Normalerweise ging ich einem Kuss niemals aus dem Weg. Normalerweise war der innere Drang in mir stärker, als mein Verstand. Bei Jude scheinbar nicht.
Ich senkte meinen Kopf, um mich seinem Blick nicht länger stellen zu müssen.

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