Kapitel 7

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Ein Mädchen. Ich sah sie nur von hinten. Ihre schwarze Kleidung schien schon fast mit der Nacht zu verschmelzen. Sie lief auf einem Weg entlang und trat schließlich auf den Dorfplatz, den ich bereits kannte. Sie schien unsicher zu sein, was sie hier tat und schaute sich um. „Hallo?" Ich konnte ihre Stimme deutlich hören. „Hallo?" wiederholte sie.
Plötzlich wechselte meine Sicht. Ich lief nun auf sie zu und schwebte ihr nicht mehr wie ein unsichtbarer Schatten hinterher. Sie schien mich zu entdecken und begann augenblicklich zu zittern. Trotz der Dunkelheit konnte ich die Furcht in ihren Augen sehen. Sie hatte Angst. Vor mir?
Ich blieb vor ihr stehen und bemerkte zum ersten Mal, dass ich nicht die Kontrolle über meinen Körper hatte. Meine Augen wollten nicht dorthin schauen, wo ich wollte, meine Arme wollten nicht das tun, was ich wollte. Was war los?
Doch aus dem Nichts hob ich meine rechte Hand und legte sie ihr auf die Schulter. Sie zuckte zusammen. Ihr schien das hier alles nicht zu passen. Sie wollte einen Schritt zurück, doch der Griff, mein Griff, um ihre Schulter war zu stark. Ich zog sie zurück zu mir, als plötzlich eine fremde Stimme ertönte.
„Sie wollen Blut. Dein Blut."
Das Mädchen erstarrte, ich bekam Panik, mein Körper blieb ruhig. Kaum verstummte die Stimme, hob ich einen Arm. Doch das war nicht mein Arm. Er war eingehüllt in strubbeliges Fell und anstatt Fingern hatte er Klauen. Das war nicht mein Arm.
Plötzlich zog ich den Arm ruckartig nach unten auf das unschuldige Mädchen vor mir. Die Klauen trafen ihren Oberkörper, schnitten sofort tiefe Wunden. Sie schrie. Ich wollte auch schreien. Blut tropfte heraus, als ich erneut ausholte, doch dieses Mal zog ich meinen Arm nach hinten. Dann schnellte ich ruckartig nach vorne, schoss mit den Klauen voran auf ihr Herz zu. Und sie schrie. Sie schrie, dass es mir in den Knochen gefror. Sie schrie.

Ich schrie. In Panik schlug ich meine Augen auf, fuhr ruckartig nach oben. Mein Atem raste, mein Herz klopfte mindestens doppelt so schnell wie gewöhnlich.
Ich lag in dem Bett, in dem Raum, in dem ich mich gestern zur Ruhe gelegt hatte. Es musste also ein Traum gewesen sein.
Aber ich habe bisher noch nie so realistisch geträumt. Warum dann jetzt?
Erschöpft ließ ich mich in das Kissen zurückfallen. Erst als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, bemerkte ich das durch dringliche Vibrieren an meinem Handgelenk. Ich blickte auf das Armband, das dort so penetrant brummte. Es blinkte und schien mir irgendwas mitteilen zu wollen. Nur was war das? War es ein Wecker? Aber für was denn?
Plötzlich schoss es mir durch den Kopf und wie gestochen, sprang ich aus dem Bett. Die Stimme. Sie sagte, ich sollte nach dem Aufwachen ins Wohnzimmer.
Sofort stürzte ich aus dem Zimmer und suchte den Weg zum Fernseher. Mit den Räumlichkeiten kam ich immer noch nicht klar und der Fakt, dass ich irgendwie Panik bekam, machte es nicht besser. Als ich gerade in die Küche kam und wieder heraus gehen wollte, da es sichtlich der falsche Raum war, spürte ich, wie sich etwas in meine Fußgelenke bohrte.
Schmerzerfüllt zog ich Luft ein und krallte meine Finger in den Stoff meiner Hose. Dennoch versuchte ich den Schmerz zu ignorieren. Doch das war schwer möglich, da er von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Nur mühsam zog ich mein Bein hinter mir her und bemühte mich, das Wohnzimmer zu finden. Wie mir das jetzt helfen sollte, war mir zwar schleierhaft, doch etwas besseres fiel mir in dem Moment nicht. Ich wollte einfach das machen, was ich sollte. Mich dem Ganzen beugen. Denn ich wusste, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, wenn ich wenigstens die Chance haben wollte, hier lebend herauszukommen.

Ich drückte die nächste Klinke herunter. Der letzte Raum, meine letzte Hoffnung. Ohne jegliche Vorwarnung verlor ich sämtliche Gefühle in meinem linken Bein und fiel der Länge nach in das Zimmer hinein. Irgendwie schaffte ich es, mich mehr oder weniger mit den Armen aufzufangen, aber dennoch schlug ich mit meinem Körper auf dem Boden auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ich den Schmerz spürte. Ein Ziehen ging durch meinen ganzen Körper und sammelte sich in meinen Händen und an den Knien. Es war eine Mischung aus einem Kribbeln und einem Stechen, die zusammen ein unangenehmes Gefühl bildeten.
Schwerfällig zog ich mich weiter hinein, bis schließlich auch meine Beine auf dem kratzigen Teppich lagen. Ich vernahm einen leisen Ton und augenblicklich spürte ich ein Kribbeln in meinem Bein. Nach und nach konnte ich es wieder spüren, aber der Schmerz im Bereich der Fußfessel, die sehr wahrscheinlich für das Ganze verantwortlich war, ließ nur bedingt nach.
Ich wendete meinen Blick von meinem Fuß zu dem kleinen Tisch neben dem Sofa, auf dem ein Paar schwarze Kopfhörer lagen, die über ein langes, dünnes Kabel mit dem Fernseher verbunden waren. In der Hoffnung, dass die Schmerzen nachließen, wenn ich tat, was die Stimme verlangte, krabbelte ich schnellstmöglich zum Tisch und setzte sie auf. Gedämpft vernahm ich ein erneutes Piepen und der Schmerz an meinem Fuß ließ Stück für Stück nach. Erleichtert atmete ich auf und lehnte mich mit dem Rücken an die Kante des Sofas.

Werwolf - Das Spiel beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt