"Ava?" Ich löste mich aus der schweigsamen Starre, die mich nun für eine lange Zeit umschlossen hatte und drehte meinen Kopf zur Seite.
"Geht es dir gut?" Emma stand neben mir, legte ihre zarte Hand auf meine Schulter. Ihre Stimme wirkte so traurig und schwach, ihre sonst strahlend blauen Augen schimmerten erschöpft und verzweifelt. Dieses Spiel macht sie kaputt. Sie, mich und alle anderen. Das war mir längst bewusst, jeder verwirrte Gedanke, der gegen meinen Kopf hämmerte, erinnerte mich daran. An diese Gewalt, die dieses Spiel hatte. An diese Macht, die es auf uns ausübte. An diese Furcht, die es in uns pflanzte, um dann zuzuschauen, wie sie uns langsam zerfraß.Aber sie nun auch so zu sehen, so zerbrochen, versetzte mir einen unglaublich heftigen Schlag. All die quälenden Gedanken, all die kräftezehrende Angst, waren plötzlich nicht mehr wichtig. Ich wollte nur noch Emma aus ihrem Loch heraus helfen, ihr dieses Strahlen zurückbringen. Dieses Strahlen, das nicht nur ihr Kraft schenkte, sondern auch mir genug Energie gab, um weiter zu machen.
Und nun war es erstickt. Dieses Spiel hatte es immer weiter verdunkelt, bis es schließlich keine Luft mehr hatte, um weiter zu bestehen und erlosch.
Wie konnte es sein, dass diese Leute sich das Recht heraus nahmen, über uns zu entscheiden, alle guten Gefühle zu unterdrücken? Das war nicht gerecht. Sie nahmen unsere Freiheit, unsere Freude und unser Leben. Mehr konnte man uns nicht rauben.Anstatt ihr zu antworten, ging ich einen Schritt auf sie zu und schloss meine Arme um sie. Ich war noch nie eine sehr emphatische Person, ich hielt mich eher aus den Emotionen anderer raus, doch hier konnte ich es nicht. Ich wollte es nicht. Sie spiegelte dieselbe Verzweiflung, dieselbe Angst, in ihren Augen, die auch meine Seele quälten. So zerbrochen, so erschöpft. Ich sah mich selbst vor mir. Sie wirkte so verloren wie ich, so verängstigt wie ich.
Aber ihre Arme, ihre Nähe, zu spüren, beruhigte mich. Die Umarmung fühlte sich an, wie eine Stütze, wie der Rettungsring, der mich gerade noch über Wasser hielt. Sie nahm etwas von dem Druck und von der Angst, ließ mich aufatmen."Ich kann nicht mehr." hauchte sie vorsichtig und begann leise zu schluchzen. Es waren dieselben Worte, die ich auch zu Yannik gesagt hatte, dieselbe Trauer lag in ihrer Stimme. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, wusste nicht, wie ich mit diesen Emotionen umgehen sollte. Ich war nicht gut darin, so etwas konnte ich nicht.
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." zitterte ich leise Yannik's Worte und strich Emma langsam über den Rücken. Ich hatte gehofft, sie würde darauf reagieren, lachen oder mich fragen, von wem ich das aufgeschnappt habe, doch das tat sie nicht. Ihr Kopf ruhte auf meiner Schulter und sie schwieg. Sie schien die Umarmung noch nicht verlassen zu wollen und mir ging es auch so. Aber sie sagte nichts, ließ zu, dass uns die Stille wie ein kühler Neben umhüllte. Ich wusste, dass ich etwas sagen sollte, wusste, dass ich stark sein musste. Nur kurz. Für sie. Also öffnete ich meinen Mund und ließ die Worte frei, die sich dahinter versteckten. Ich redete los, mein Kopf kam nur langsam hinterher."Yannik hat mir den Spruch erzählt. Er sagte zu mir, ich müsse kämpfen. Gegen dieses Spiel und gegen meine eigene Angst." Ich lachte leise auf, auch wenn es sich eher wie ein kurzes Schnauben anhörte. Es war absurd, dass sie das mit uns machten. Es wirkte kaum real, dass wir in einer solchen Situation steckten. "Ich weiß; es klingt dumm, schon fast unmöglich. Wie kann man in so einer Situation kämpfen? Wie kann man seinen eigenen Kopf besiegen?" Ich löste mich aus der Umarmung, nahm Emmas Hände und blickte ihr in die Augen. "Wir haben nicht mehr viel Zeit hier, vielleicht nur noch ein paar Stunden. Also lass uns ihnen nicht diesen Gefallen tun und unsere letzten Momente nur mit Trauer füllen. Zeigen wir ihnen, dass sie uns unsere Freude nicht nehmen können! Dass sie nicht die völlige Kontrolle über uns haben!" Ich machte eine kurze Pause, atmete tief durch und versuchte, Emmas Gesichtsausdruck zu deuten. Bevor sie etwas sagen konnte, fügte ich noch schnell etwas hinzu. "Ich brauche dich." Ihr angespannter Gesichtsausdruck wurde weicher und nun war sie es, die mich in eine Umarmung zog. Dankbar schloss ich erneut meine Arme um ihren Oberkörper und hielt mich an dieser Sicherheit fest, die sie mir gab.
"Danke. Ich dich auch." hörte ich Emma zu mir flüstern und ich schmunzelte erleichtert. "Zeigen wir diesem bescheuerten Spiel, mit wem sie sich angelegt haben. Wir sind die Rebellen in Person." Sie löste sich wieder und zwinkerte mir zu.
"Die feurigen Rebellen der Seelen, die die Freude zurückbringen." fügte sie hinzu und lachte frech. Mein bis dahin noch etwas verkrampfter Körper lockerte sich und meine Mundwinkel wanderten fast automatisch nach oben. Emma blickte mir in die Augen, ging einige Schritte zurück, riss die Arme in die Höhe und begann sich zu drehen, während sie immer lauter lachte. "Scheiße, ich liebe das Leben!" schrie sie in die Luft und schloss ihre Augen.
Als sie wieder zum Stillstand kam und immer noch mich erhobenen Armen auf dem Weg stand, konnte ich mein Lachen nicht zurückhalten. Erst leise, dann immer lauter wurde ich und es fühlte sich so befreiend an. Emma blickte zu mir und grinste zufrieden. Mit ihren leicht zerzausten Haaren und ihrem frohen Gesichtsausdruck wirkte sie so frech und wild. Wie ein freier Vogel. Ein Vogel, der dabei war, aus seinem Käfig zu fliehen. Bald würde er fliegen. Bald.
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Werwolf - Das Spiel beginnt
HorrorFünfzehn Personen. Fünfzehn Charaktere. Ein Spiel. Eingesperrt, werden sie gezwungen zu spielen. Sie wurden aus ihrem Alltag herausgerissen und in diese, für sie völlig fremde Welt gesteckt. Die Grenze zwischen Leben und Tod verschwamm vor ihren...