Kapitel 9

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„Ava?"
„Was ist mir ihr?" Die weibliche Stimme klang besorgt und ängstlich.
„Ava?"
„Sie ist einfach umgekippt." Die Antwort kam in einem tieferen, nervösen Ton.
„Kannst du mich hören? Ava?"

Leise, aufgeregte Stimmen, undeutliches Gerede. Die Töne sickern nur verschwommen zu mir durch. Wie das leise Säuseln des Windes an einem warmen Sommerabend.
Und dennoch klar und deutlich, als seien es nur Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirren. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber dennoch wusste ich, was sie sagten. 

„Wir müssen ihr helfen! Kennt sich jemand hiermit aus?"
„Mit was denn?" fragte die Person, die der tiefen aufgeregten Stimme gehörte.
„Panikattacken, ... Zusammenbrüche, ... ach ich weiß es doch selber nicht. Halt irgendwie mit Medizin." kam als undeutliche Antwort.
„Ich hab mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht." meldete sich einer der Jungen zu Wort.
„Und?... Was haben die gesagt?"
„Das haben wir nicht behandelt. ... Aber halt stabile Seitenlage und Hilfe rufen. Nur Letzteres wird etwas schwer." gab er etwas unsicher zurück.
„Okay... Ich probiere das mal mit der Seitenlage... Und wie funktioniert das?"
„Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll." mischte sich eine tiefe, aber dennoch sanfte Stimme ein.
„Was?... War das Goethe?" fragte die aufgeregte Person fassungslos.
„Euer Ernst?... Wir müssen ihr helfen und nicht den großen Philosophen raushängen lassen." kam als scharfe Antwort von der weiblichen Stimme, die bereits die ganze Zeit sprach.
"Ja. Entschuldigung..."

Leichter Druck an meinen Armen. Kaum spürbar, als sei ich in eine dicke Winterjacke gewickelt. Doch diese Kälte. Sie kriecht meine Haut entlang. Ich kann sie fühlen.

„Die Versammlung ist eröffnet. Ihr habt fünf Minuten, um euch zu entscheiden. An der Tafel findet ihr eine Karte mit einer Übersicht der Häuser." Laute kalte Worte hallen durch die Luft.
„So eine Scheiße! Was sollen wir denn jetzt machen?" fragte die aufgeregte Stimme panisch.
„Keine Ahnung. Irgendjemand verdächtigen. Am Besten einen Werwolf." War die Antwort eines Jungen.
"Nicht hilfreich..." gab eine weibliche Stimme forsch zurück.

Stille. Erdrückend und unausstehlich. Geheimnisvoll und verräterisch.

„Wir müssen irgendjemanden nehmen." meldete er sich erneut zu Wort.
„Du... Karl. Ich denke Karl." Die aufgeregte Stimme klang in diesem Moment noch nervöser als vorher.
„Was? Warum? Ich hab nichts gemacht... nein, eher Moritz. Aber nicht ich." gab der Angesprochene schnell zurück.
„Warum denn ich?"
„Na, weil du eben... sehr verdächtig bist." meinte der Junge zögernd.
„Sei mal lieber leise Kleiner. Moritz war das bestimmt nicht." mischte sich eine weitere Stimme ein.
„Und woher willst du das bitte wissen?" gab er fragend zurück.

Angst. Ich kann sie spüren. Sie ist in meinem Kopf. Sie ist in den Stimmen. Sie liegt in der Luft. Sie ist einfach überall!

„Lukas." meinte eine leise Stimme nach einigen Momenten der Stille.
„Was hast du gesagt?" Die aufgeregte Person sprach wieder etwas ruhiger.
„Lukas. Wählt Lukas. Er ist ein Werwolf." wiederholte sie.
„Und woher willst du das wissen?" hackte die Person nach.
„Ich weiß es einfach. Er ist sicher ein Werwolf."
„Nein! Bin ich nicht! Sie lügt!" In den Worten lag Angst, Schrecken und etwas Empörung.
„Bist du dir sicher, Kleine?"
„Ja. Er ist ein Werwolf. Und nenn mich bitte nicht Kleine." versicherte sie mit fester, entschlossener Stimme.

Ich spürte, wie allmählich wieder Leben in meinem kraftlosen Körper kam. Der Druck auf meiner Brust ließ nach, gab mir wieder Raum zum Atmen.
Es fühlte sich befreiend an, endlich wieder ordentlich Luft in seine Lungen zu bekommen. Ich genoss jeden einzelnen Atemzug, mit dem der wohltuende Sauerstoff aufgenommen wurde und spürte, wie die Anspannung von mir abfiel.
Wäre da nur nicht diese Stimme. Diese bescheuerte Stimme.

„Wir haben nun drei Ausgewählte. Die Angeklagten treten nach vorne und stellen ihre Verteidigung vor. Sagt weshalb ihr kein Werwolf sein solltet."

Ich blinzelte. Ein Schatten lag auf meinem Gesicht, schirmte mich ab vor der Sonne.
Direkt vor mir: ein Knie, das sich auf den harten Boden stütze.
Nur langsam konnte ich meinen Kopf drehen, um das Gesicht zu betrachten, das zu dem Knie gehörte.
Doch ich konnte nur den Hinterkopf der Gestalt sehen, ihr Kopf war von mir weg gedreht.

„Karl. Fang du an." meinte eine tiefe, etwas nervöse Stimme und bekam schnell eine Antwort.
„Was soll ich denn machen? Ich verstehe das ganze Spiel nicht." Die Worte wurden leise, fast weinerlich, hervorgebracht.

Zitternd drückte ich mich hoch. Meine Arme schafften es kaum ihren Dienst zu erweisen, kippten fast wieder zur Seite weg.
Dennoch schaffte ich es irgendwie meinen Oberkörper so weit hochzudrücken, dass ich aufrecht saß und mich dann rückwärts an das Bein der Bank hinter mir lehnte.

„Ganz ruhig... du musst jetzt nur sagen, warum du kein Werwolf bist. Weiter nichts." Die weibliche Stimme klang ruhig, versuchte dem verängstigten Klang der Worte entgegenzuwirken.
„Okay... also ich... ich habe eigentlich... eine andere... Rolle. Ich hab niemanden... umgebracht." Nur zögerlich fanden diese Worte ihren Weg in die Runde hinein. Sie schwebten zerbrechlich wie wankende Seifenblasen in der Luft, die von jedem leichten Wind weggetrieben oder gar zerplatzt werden konnten.

Doch ich bekam kaum etwas von dem Geschehen mit. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mir einen Weg auszudenken halbwegs sicher aufzustehen, doch das immer noch stetig präsente Dröhnen in meinem Schädel machte es nicht gerade zu einem einfachen Unterfangen.
Ich überlegte angestrengt, versuchte mich zu konzentrieren, sodass die Stimmen, die an mein Ohr drangen, von meinem Kopf regelrecht übertönt wurden.
Ich konnte nicht verstehen, was sie erzählten, ich konnte noch nicht einmal sagen, wer gerade sprach. Es war, als wäre ich in einer Blase gefangen, in der ich alleine mit meinen Gedanken schwebte und alles um mich herum mir wie ein Traum vorkam.

Doch dann durchbrach nach einigen Augenblicken plötzlich etwas diese dicken Mauern, die mich umgaben und sofort wünschte ich mir die schützende Hülle der Blase zurück, in der ich nichts hörte und nur mit mir selbst alleine war.

„Jeder hat nun eine Stimme für die folgende Abstimmung. Wählt euren Verdächtigen aus und hebt, sobald der Name fällt, eure Hand. Die Person, die am Ende die meisten Stimmen hat, wird dem Dorf als Angeklagter vorgeführt und verurteilt."


Werwolf - Das Spiel beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt