Emma schnappte nach Luft, ich blickte Nele verwirrt an.
"Was meinst du?" versuchte ich so ruhig wie möglich zu fragen. Nele blickte zu mir empor, schniefte immer noch leise. Ihre tränenden Augen hatten inzwischen eine beängstigend rote Farbe angenommen und strahlten zudem noch eine so tiefe Verzweiflung aus, dass ich Bauchschmerzen bekam.
Während sie versuchte, eine Antwort hervorzubringen, streichelte ich ihr weiterhin sanft über die Schulter."Sie sind... ich habe sie... verraten... tot... Lilly und Lukas." stammelte sie schniefend und drückte ihren Kopf dann wieder an meine Brust. Ich blickte zu Emma, die uns beide genau betrachtete und nickte ihr dann zu. Sie schien es zu verstehen und ging langsam auf Nele zu. Dann strich auch sie ihr sorgsam über den Rücken und meinte dann in einer ruhigen Stimmlage: "Du bist nicht schuld. Warum glaubst du denn so etwas?" Die Angesprochene wendete ihren Kopf und schaute zu Emma. "Ich habe sie angeklagt... ich bin die Seherin." flüsterte sie ihr zu und schniefte erneut.
Ich brauchte einige Momente, um zu realisieren, was Nele dort gesagt hatte. Sie hatte ihre Rolle verraten, sie hatte gegen die Regeln verstoßen. In meinen Gedanken malte ich mir bereits aus, was passieren würde, stellte mir vor, was disqualifiziert bedeuten könnte.Ich brachte es kaum zustande, einen ordentlichen Satz in meinem Kopf zusammenzuformen, um Nele auf das Gesagte hinzuweisen. Die Wörter begannen zu verschwimmen, wollten sich nicht aneinanderreihen. Doch zu meinem Glück schien es Emma nicht so zu gehen und sie sprach Nele rasch darauf an.
"Nele. Du hast uns eben deine Rolle verraten. Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen. Du hast eben gegen die Regeln verstoßen." meinte sie leicht streng und wendete ihren nervösen Blick wieder zu mir.
"Ich darf das. Keine Sorge." entgegnete Nele leise und wischte sich mit einem Arm über die feuchten Augen. "Wieso?" fragte Penelope, die ich bis zu dem Augenblick völlig ausgeblendet hatte. Sie saß immer noch mit Tabea auf der Treppe und schaute verwirrt zu uns herüber.
"Haben die gesagt, als ich die Rolle bekommen habe. Ich darf einmal im Spiel sagen, wer ich bin." erklärte ihr Nele und schaute dann zu mir hoch. Ich versuchte sie anzulächeln, um ihr den Druck zu nehmen, doch so unsicher, wie ich mich in dem Moment fühlte, konnte es kaum funktionieren. Die Freude, die ich vor einigen Minuten verspürt hatte, war verschwunden und ich konnte sie so leicht nicht wiederfinden. Doch auch wenn nur meine äußere Hülle ruhig wirkte, mein Inneres jedoch so aufgewühlt, wie ein tosender Ozean war, erreichte Nele dieser Versuch eines Lächelns. Sie schniefte nun wieder in etwas längeren Abständen und schien sich langsam zu beruhigen."Aber auch wenn du Seherin bist, hast du keine Schuld daran, dass sie getötet wurden. Das war allein dieses Spiel. Es hat sie ganz..." Emma stockte und starrte auf Neles Handgelenk. "Es leuchtet." nuschelte sie vor sich hin und fixierte den Arm nur noch intensiver. Nele blickte verwirrt herunter und hob dann langsam ihre Hand. Das Armband strahlte genauso hell, wie es meins bereits die ganze Zeit tat.
"Ava? Was ist das?" fragte sie mit zitternder Stimme, schien Angst zu haben, dass sie doch gegen die Regeln verstoßen hatte. Auf dem weißen Bildschirm stand mit schwarzen Buchstaben ein Wort geschrieben. Seherin.
"Alles gut." beruhigte ich Nele. "Das zeigt nur deine Rolle an. So wie bei mir." Unterstützend hob ich mein Handgelenk und präsentierte das ebenfalls leuchtende Armband. Nele atmete erleichtert aus und auch Emma entspannte sich etwas.Schließlich löste ich mich aus der Umarmung und nahm Neles Hände. Ich wusste nicht, wie ich ihr das Folgende mitteilen konnte. Wie sollte man jemanden erklären, dass er gerade sein Todesurteil gesprochen hatte?
"Nele." fing ich an und holte dann erneut tief Luft. "Jetzt wissen es alle."
"Was wissen alle?" unterbrach sie mich und blickte mich aus ihren unschuldigen grünen Augen verwirrt an. "Jetzt wissen alle, dass du die Seherin bist. Jetzt wissen auch die Werwölfe, dass du sie enttarnen kannst." Augenblicklich wich jegliche Farbe aus ihrem zarten Gesicht.
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Werwolf - Das Spiel beginnt
HorrorFünfzehn Personen. Fünfzehn Charaktere. Ein Spiel. Eingesperrt, werden sie gezwungen zu spielen. Sie wurden aus ihrem Alltag herausgerissen und in diese, für sie völlig fremde Welt gesteckt. Die Grenze zwischen Leben und Tod verschwamm vor ihren...