Kapitel 14

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Ich atmete nochmal tief ein, ließ die Luft durch meine Lungen strömen und öffnete dann wieder die Augen. Wie lange ich sie geschlossen hatte, konnte ich selber nicht sagen, aber inzwischen waren die Gestalten verschwunden und wir standen erneut alleine auf dem Platz. Alleine mit einer Leiche.
Ein Stechen in meiner Hand lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Langsam hob ich den Arm, betrachtete meine Haut. Kleine Blutstropfen schimmerten im Licht der traurigen Sonne und bahnten sich dann ihren Weg meine Hand hinunter. Auf der Innenseite durchzogen kleine Kratzer die Haut und weinten nun diese roten Tränen.
Ich war es selbst. Das waren meine Kratzer. Aus Angst. Aus Angst hatte ich meine Finger in die Haut gebohrt, hatte den Druck und die Anspannung nicht ausgehalten. Wegen diesem Spiel verletzte ich mich selbst. Diesem bescheuerten Spiel.

Zwölf waren noch übrig. Zwölf hatte das Spiel bisher verschont. Zwölf warteten noch auf ihren Tod. Den Tod, der bereits seinen dunklen Finger nach ihnen ausstrecke, sie langsam umschlang und dann nacheinander in die Tiefe riss.
Und Lilly war in diesen Abgrund gezogen worden. Eiskalt und ohne Gnade. Ich konnte den leblosen Körper nicht ansehen, ich wollte ihn nicht ansehen. Bei Lukas hatte ich bereits ein schlechtes Gefühl gehabt, aber bei Lilly war es unerträglich geworden. Nun hatte ich selber dazu beigetragen, dass sie starb, nun war ich mit für ihren Tod verantwortlich.
War ich das? Oder wirklich nur das Spiel? Wir haben sie doch gewählt... Sind wir nun wirklich schuld?
Die Frage konnte ich mir nicht wirklich beantworten. In dem einen Moment war mir klar, dass das Spiel allein dafür verantwortlich war, im nächsten begann ich zu zweifeln. Es war ein ständiges Hin und Her. Ich wusste nicht, wie lange mein Kopf das noch aushalten könnte, wie lange ich noch meine Gedanken noch bekämpfen konnte. Ich war noch nie gut darin gewesen. Zu kämpfen. Besonders nicht gegen mich selbst.
Aber hier in diesem Spiel schien es mir schier unmöglich, dass ich gewinnen könnte. So schwach und unterlegen hatte ich mich noch nie gefühlt.
Nicht bei den verlorenen Streiten mit meinen Geschwistern, nicht wenn mich meine Eltern für etwas zurechtgewiesen haben und auch nicht, als ich vor Jahren in der Schule von einer Lehrerin zusammengeschrien wurde.
Mein Bruder sagte immer, dass er es witzig fände, wie das weibliche Gehirn funktioniert. Dass ich in Situationen schnell Beispiele aus der Vergangenheit aufrief und er sich meist nicht daran erinnern konnte.
Ob er sich noch an mich erinnert? Bestimmt... ich bin doch seine Schwester. Aber wie lange bin ich überhaupt schon weg? Sind es Tage oder schon Wochen? Wann bin ich überhaupt an diesen verfluchten Ort gelangt? Wann?

Langsam drehte ich durch. Gedanken sprudelten durch meinen Kopf, wirkten zusammen wie ein tosendes Meer, dessen gigantische Wellen jeden Hilferuf überdecken würden. Weshalb sollte ich es also probieren?
Ich werde verlieren. Egal was ich mache, ich werde verlieren. Ertrinken in meinen eigenen Gedanken. Was bringt es überhaupt noch weiter zu machen?
Angst vermischt sich mit Zweifeln, drückte mich nur noch tiefer unter Wasser. In diese verschlingende Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die mich gewiss auch bald umhüllen würde.

"Werwolf." Noahs Stimme durchbrach die Hülle aus Gedanken, in der ich mich immer wieder verfing. Er stand neben dem leblosen Körper und starrte fassungslos auf das Armband. Sein Gesicht war bleich, aber dennoch schien er zu versuchen, die Anspannung und den Schrecken zu überdecken. Er war der Bürgermeister. Er musste Haltung waren. Keine Fehler, keine Gefühlsausbrüche. Das wurde von ihm erwartet. Doch er war keine Maschine. Er konnte seine Emotionen nicht ausschalten und nur kalt funktionieren. Er war ein Mensch. Keine Maschine. Ein Mensch!

Ich hörte, wie vor mir jemand bei dem Klang der Worte aufatmete und erleichtert die Schultern fallen ließ. Das legte in mir einen Schalter um. Die anfängliche Verzweiflung, die sich bis zu meinen Knochen gefressen hatte, wandelte sich nach und nach in eine verschlingende Flamme der Wut um.
Wie kann er aufatmen? Wie kann er aufatmen?!
Meine zitternden Finger schlossen sich zu einer geballten Faust, unterdrückten den leichten Schmerz. Mein gesamter Körper spannte sich an, die Wut erfüllte jeden kleinen Teil davon, löschte andere Gefühle völlig aus.
Wie kann er aufatmen?! Da ist jemand gestorben! Da ist jemand gestorben!
Ich schaffte es kaum, mich selbst im Zaum zu halten. Meine Gedanken konnte ich bereits nicht kontrollieren, nun schien mein ganzer Körper der Wut zu verfallen. Nur schwer konnte ich mich zurückhalten und ihn nicht anzuschreien.
Mein Fuß drückte immer stärker in den Boden, ich bemühte mich, diesem unerträglichen Gefühl genug Raum zu geben, damit es mich nicht komplett erdrückte.
Atmen. Ruhig...

Werwolf - Das Spiel beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt