Stille. Dunkelheit. Dichter Nebel.
Ich schritt durch die Nacht, schwerer Wind zerzauste meine Haare. Kälte lag in der Luft, ich fror und spürte dennoch nichts. Gefühllos wandelte ich auf einen engen Pfad. Links und rechts Gebüsch. Ich sah, wie meine Füße auf dem Boden aufkamen, doch sie erzeugten keinen Ton. Nicht ein Geräusch war zu hören. Nur diese nächtliche Stille.
Der Weg weitete sich, führte auf einen runden Platz. In der Mitte war ein großer Springbrunnen. Im unruhigen Wasser spiegelte sich verzehrt der runde Mond. Einzelne, in die Luft geworfene Tropfen schimmerten in seinem Schein wie kleine Diamanten.
Doch plötzlich wurde es dunkel. Wolken schoben sich vor den Mond. Alles wurde schwarz. Kein Licht, nur tiefe Dunkelheit. Ich blieb stehen. Oder lief ich doch weiter? Bewegte sich um mich alles oder stand die Welt völlig still?
Doch auf einmal war da wieder etwas Licht. Es erhellte eine bestimmte Stelle. Dort kniete jemand. Lange, dunkle Haare hingen über ihrem Gesicht. Sie war bleich, wirkte beinahe wie ein Geist.
Ich trat näher, ging auf sie zu. Plötzlich erkannte ich sie. Angewurzelt blieb ich stehen, bewegte mich dennoch weiter auf sie zu. Sie hockte dort auf dem kahlen Stein. Ihre Hände lagen in Ketten, dickes, schweres Metall. Das zerrissene, weiße Kleid, das sie trug, war an vielen Stellen von Blut getränkt. Sie war verwundet. Sie war verlassen. Sie war... ich.
Ich selbst saß vor mir auf dem Boden, in Ketten und alleine in der Dunkelheit. Es waren meine zerkratzen Hände, meine blutenden Beine. Ich sah mich. Dort auf dem Platz.
Plötzlich hob ich meinen Kopf. Die Haare fielen zur Seite, als ich mich zu mir selbst drehte. Doch als ich mich direkt ansah, erschrak ich. Mein Kopf trug kein Gesicht. Keine Augen, keine Nase, keinen Mund. Nichts. Gesichtslos. Gekettet. Verletzt.
Ich wollte zurückweichen, meinen Blick von mir selbst abwenden. Aber ich näherte mich nur immer weiter an. Ich hatte Angst. Angst vor dieser Gestalt. Angst vor meinem Abbild. Angst vor mir selbst.
Sie streckte ihre Hand aus, wollte mich greifen. Einzelne Bluttropfen rannen ihre Finger entlang und tropften auf den Boden. Langsam sanken sie auf den Stein. Alles begann zu verschwimmen. Ich sah nur noch ihre Hand, meine Hand, wie sie näher kam. Deutlich. Näher und näher. Ein Schrei. Ohrenbetäubend durchbrach er die erdrückende Stille. Ein Schrei...Ich schreckte hoch. In meinen Ohren hallte der Ton noch einige Sekunden nach. Schwer atmend blickte ich mich um. Kein Stein, keine Ketten, kein Blut. Nur ein Bett, eine Lampe, ein Schrank.
Ich brauchte einige Momente, um mich zu ordnen. Mein Kopf dröhnte immer noch von der Lautstärke. Sie war so nah. So greifbar.
Das war alles nur ein Traum. Alles gut. Das war alles nur ein Traum.Doch für mich war nichts gut. Aufgewühlt hockte ich im Bett, fuhr mir angespannt mit den Fingern durch die Haare und versuchte mich zu beruhigen.
Eben war ich noch da gewesen. Eben saß sie noch vor mir. Eben saß ich noch vor mir.
Sie war da. Ich war da. Ich hatte kein Gesicht, lag in Ketten verwundet dort auf dem Platz. Dem Platz, den ich gut kannte und schon mehrere Male betreten hatte.
Was sollen diese Träume? Die hatte ich doch früher nicht. Was macht dieses Spiel mit mir? Was macht diese Angst mit mir?Ich hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Das plötzliche Vibrieren an meinem Handgelenk brachte mich ruckartig auf andere Gedanken. Sofort stolperte ich aus dem Bett, schleppte die Decke noch einige Meter an meinem Fuß bis zur Tür, bis ich sie dann schließlich dort abschüttelte. Gehetzt rannte ich auf die Wohnzimmertür zu, drückte energisch die Klinke herunter. Der Raum lag friedlich vor mir, viel zu friedlich. Viel zu friedlich für dieses ganze Spiel.
Schnell lief ich zum Tisch und setzte mir die dunklen Kopfhörer auf. Das durchgehende Brummen an meinem Handgelenk stoppte und ich setzte mich beinahe etwas erleichtert auf die Kante des Sofas.
In den Kopfhörern knackte es leise, dann hörte ich die Stimme. So kalt und unbeteiligt wie am Vortag.
"Die Nacht ist vorbei, der Morgen noch frisch. Ihr werdet jetzt eine Stunde Zeit haben, um euch umzuziehen und zu frühstücken. Dann kommt ihr auf das Zeichen eures Armbands zum Platz. Beeilt euch."
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Werwolf - Das Spiel beginnt
HorrorFünfzehn Personen. Fünfzehn Charaktere. Ein Spiel. Eingesperrt, werden sie gezwungen zu spielen. Sie wurden aus ihrem Alltag herausgerissen und in diese, für sie völlig fremde Welt gesteckt. Die Grenze zwischen Leben und Tod verschwamm vor ihren...