XXVI

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Langsam öffnete Callisto die Augen.
Sie war verwirrt. Sie wusste nicht mehr, was Realität war, was sie geträumt hatte, und was vielleicht auch einfach nur Wunschdenken war. Allerdings hätte sie schwören können, dass sie in einer Hütte irgendwo im verbotenen Wald war, dass Remus ihr erzählt hatte, dass er ein Werwolf war und dass Sirius aufgetaucht war.
Aber das war natürlich völliger Unsinn, denn Sirius war in Azkaban- nein. Das stimmte nicht. Er war nicht mehr in Azkaban. Er war ausgebrochen.
Sie schloss die Augen wieder, um ein wenig in sich zu lauschen. Doch statt ihrer eigenen Gedanken, hörte sie auf einmal Stimmen.
"...ich musste es ihr doch sagen. Sie wäre früher oder später ohnehin dahinter gekommen."
"Da hast du vermutlich auch noch recht... Sie ist so groß geworden."
"Naja, sie wird auch nächstes Jahr achtzehn."
"Erinner mich nicht dran. In meinen Erinnerungen ist sie noch immer das kleine Mädchen von damals."
"Ja... nein, in meinen nicht mehr. Ich würde nicht behaupten, ich hätte sie aufwachsen gesehen. Das hat keiner von uns... aber mir hat sich vor dir die Möglichkeit geboten, wieder mit ihr in Kontakt zu treten."
Und so verstand Callisto, dass sie es nicht geträumt hatte. Dass es kein Wunschdenken war. Dass es Realität war.
Ihr Bruder war zurück.
Sie stand von dem Bett auf (wie auch immer sie dorthin gekommen war), und stand quasi sofort ihrem Bruder gegenüber.
Sirius blickte vom Tisch hoch, sah sie an, und richtete sich auf. Sie standen sich einen Moment gegenüber, musterten einander, doch die Informationen, die sie aufnahm, kamen gar nicht in Callistos Kopf an.
Sie sah, dass er dreckig war. Dass seine Haare verfilzt waren, seine Wangen eingefallen und seine Haut blass war. Sie sah, wie dünn er war und wie gebrochen der Blick in seinen Augen war.
Sie wollte nicht weinen, und so sehr sie auch dagegen ankämpfte, trotzdem füllten sich ihre Augen mit Tränen Völlig aus dem Nichts hob sie die Hand und sie schlug ihm einmal mit der flachen Hand feste ins Gesicht.
"Warum hast du mich im Stich gelassen?", schrie sie. "Wie konntest du es wagen? Ich war noch ein kleines Kind! Ich habe dich gebraucht! All die Jahre wusste ich, dass du unschuldig bist und keiner hat es mir geglaubt. All die Jahre wurde ich dafür gehänselt und ausgeschlossen, dass ich eine Black bin! Ich sollte dich dafür hassen!", die Tränen versperrten ihr die Sicht, sodass sie nicht sehen konnte, wie Sirius darauf reagierte. "Aber ich kann dich nicht hassen, und du kannst für den ganze Scheiß nicht einmal etwas! Ich bin dir überhaupt nicht sauer! Aber die Jahre waren so hart. Und ich habe dich so vermisst."
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, allerdings traten sofort wieder neue nach.
Sirius sah sie mit einem völlig unbestimmbaren Blick an, und ehe sie weiter rumschreien konnte, schloss er sie in seine Arme und zog sie zu sich.
"Du lebst.", flüsterte er.
Mit einem Mal erinnerte Callisto sich an Bill, der ihr in ihrem ersten Jahr gesagt hatte, dass Sirius nicht einmal wirklich wissen konnte, ob sie noch lebte, oder nicht.
Sie legte ihre Arme ebenfalls um ihn und weinte eine ganze Zeit einfach nur in den dreckigen Mantel ihres Bruders.
In seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Sie fühlte sich zuhause.
Sie spürte, wie abgemagert er war, und sie spürte, in was für einer schlechten körperlichen Verfassung er war. Und doch spürte sie, dass sie angekommen war.
In dieser Hütte, mit Sirius und Remus, fühlte es sich an, als hätte ihre umherirrende Seele endlich Ruhe gefunden. Endlich den Ort, wo sie hingehörte.

Sirius ließ sie so lange weinen, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte, und auch dann hielt er sie noch weiter.
"Es tut mir leid.", sagte er dann.
"Nein, mir tut es leid. Ich hätte dich gerade nicht schlagen dürfen."
"Das hatte ich aber verdient. Es tut mir leid, dass du ohne mich aufwachsen musstest. Pfötchen, du weißt nicht, was ich alles dafür getan hätte, bei dir zu sein. Und wenn es nur für einen Tag gewesen wäre."
Die Worte brachten sie erneut zum Weinen.
"Du k-k-konntest auch nichts da-hafür.", schluchzte sie und fühlte sich wieder wie ein kleines Kind, welches unkontrollierbar weinte.
"Nein, ich konnte nichts dafür. Aber du hättest nicht diejenige sein sollen, auf deren Schultern diese Last abgelegt wurde."
Nun ließ sie ihn los.
"Nein, das hätte ich nicht sein sollen...", sagte sie, und zwang ihren Atem zu etwas Ruhe. "Aber du hättest auch nicht unschuldig in Azkaban sitzen müssen.", dann drehte sie sich zu Remus. "Und du hättest dich nicht all die Jahre verstecken sollen. Aber so ist es nun gekommen."
"Das wichtigste ist,", sagte Remus, "dass wir alle wieder beisammen sind."
Dem konnten die Black-Geschwister nicht wiedersprechen.
Dann ließen sie sich wieder am Tisch nieder, und Remus reichte ihr erst einmal ein Glas Wasser, damit sie die ganze Flüssigkeit, die sie ausgeheult hatte, wieder zu sich nehmen konnte.
"Das ist übrigens auch der Grund, weshalb du fliehen musstest.", begann er dann zu erklären. "Weil einige Leute zu vermuten begonnen haben, dass Tatze sich irgendwie in die Schule geschlichen hat, wollten sie gestern Nacht eine Säuberungsaktion, wie Severus es nannte, starten. Sie haben einmal sämtliche Dementoren durch die Gänge gejagt."
"Das hättest du nicht überlebt.", sagte Sirius an seine Schwester gewandt.
Verwundert hob sie den Blick. "Aber ich bin doch gar kein Insasse von Azkaban."
"Nein, dass nicht, aber...", Remus sah sie entschuldigend an. "Deine Gene. In euren Adern fließt das gleiche Blut."
"Das hätte den Dementoren schon gereicht, um dich zu töten.", beendete Sirius die Erklärung.
"Aber Dumbledore wusste davon, ich wusste davon, und wir hatten uns abgesprochen, dass ich dich aus der Schule in Sicherheit bringen würde. Allerdings war uns beiden nicht klar gewesen, dass ich vorher noch... mit meinen monatlichen Problemen zu kämpfen hatte. Sonst hätte ich dich schon vor drei Tagen vorübergehend nach London gebracht. Dort hätte ich mich dann auch auf die Suche nach Tatze begeben. Aber naja... jetzt ist es doch anders gekommen."
Daraufhin schwiegen sie einen Moment.
"Aber... werden die Leute in der Schule jetzt nicht glauben, ich würde mit Tatze unter einer Decke stecken?", fragte Callisto und auch wenn es ein ernstes Thema war, aber allein, dass sie wieder den Spitznamen ihres Bruders verwenden konnte, erfüllte sie mit Glück.
"Die Gerüchteküche wird kochen, natürlich...", sagte Remus. "Aber es ist alles auf Dumbledores Befehl hin geschehen, also wird er sich auch darum kümmern, dass dir nichts passiert."
"Und, wenn wir einmal ganz ehrlich sind...", grinste Sirius. "Im Grunde steckt ihr auch mit mir unter einer Decke. Tja, mitgehangen mitgefangen, oder so."
Sie schmunzelten und Callistos Herz machte einen Freudensprung.
Sie konnte es noch immer nicht ganz begreifen.
Aber ihr Bruder war zurück.
Alles, was sie immer gewollt hatte, seit sie ganz klein gewesen war, war in Erfüllung gegangen.
Sirius war wieder da.

Painful Truth // Remus Lupin FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt