Kapitel 22

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Jess

Das schwache Licht des Mondes fällt in das dunkle Wohnzimmer. Es ist mitten in der Nacht, doch ich kriege kein Auge zu. Also sitze ich neben Liam auf der Couch, mit angewinkelten Beinen, die ich mit meinen Armen umklammere, und sehe in sein gequältes, schlafendes Gesicht. Ein paar Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn und er wedelt leicht mit dem Kopf hin und her.

Er hat bestimmt wieder einen Alptraum. Es tut mir so leid, dass er sich an diese schrecklichen Sachen wieder erinnern musste. Hätte ich gewusst, dass ich das in ihm auslösen werde, hätte ich niemals verlangt, dass er mir davon erzählt. Ich habe schon geahnt, dass er eine schwierige Vergangenheit hatte, aber dass es so schlimm war, hätte ich nie gedacht. Joshua hat auch nie erzählt, wie seine Kindheit war. Dabei weiß ich noch gar nicht alles, denn Liam war irgendwann nicht mehr in der Lage zu erzählen, weshalb wir es einfach unterbrochen haben.

„Tina! Nein!" In seinem Traum gefangen, bringt er ein paar Worte heraus, runzelt die Stirn und zuckt unkontrolliert zusammen. Ich muss ihn nochmal wecken. Schon das zweite Mal in diesen wenigen Stunden.

„Liam! Wach auf!" Ich rüttle ihn an der Schulter und er schreckt mit einem panischen Blick hoch. „Schscht... Alles gut. Es war nur ein Traum."

Seine Atmung ist schnell und stoßweise, der Blick dunkel und finster. Wieso musste er das alles ertragen?

„Alles gut, beruhige dich." Ich schlinge meine Arme um seinen Körper und streichle zärtlich seinen Rücken. Sein T-Shirt ist klatschnass, die Atmung immer noch unruhig.

„Alles gut, entschuldige", gibt er von sich, als er in der Realität anzukommen scheint.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Willst du ein Glas Wasser?"

Ohne seine Antwort abzuwarten, hieve ich meine nackten Beine von der Couch, zupfe das T-Shirt weiter runter, dass er mir zum Schlafen gegeben hat, und hole ein gefülltes Glas aus der Küche.

„Danke", murmelt er verlegen und streicht sich mir der Hand übers Gesicht, bevor er zum Trinken ansetzt, als ob er all das Geträumte wegwischen wollte.

„Möchtest du mir erzählen, was du geträumt hast?", frage ich ganz vorsichtig.

Zunächst schüttelt er den Kopf, doch dann schnauft er und räuspert seine Stimme. „Es war alles wieder da. Der Unfall mit Gregory, mein Vater, die Schläge, der Alkohol, die Drogen, Tina."

Schmerzerfüllt schließt er seine Augen und runzelt die Stirn. Ich fühle in dem Moment seinen Schmerz. Ich würde ihm gerne helfen, das ganze Böse vertreiben. Aber wie?

,,Wieso wurde denn dein Vater so aggressiv nach dem Unfall mit Greg?" Nicht das Interesse trieb mich dazu es zu fragen, sondern das Denken, dass es ihm vielleicht helfen würde damit abzuschließen, wenn er darüber redet.

,,Irgendwann haben wir durch Zufall erfahren, dass er gar nicht unser richtiger Vater war. Als meine Mutter ihn kennenlernte war sie frisch getrennt und schwanger mit mir. Joshua fast zwei. Deswegen hat er uns auch so nie sonderlich gut behandelt. Greg war dagegen sein Sprössling und sein Ein und Alles. Nach dem Unfall war Greg lange im Krankenhaus. Er hatte sich beim Fallen auch noch den Kopf gestoßen, Bewusstsein verloren und deshalb fast ertrunken. Vater ist in der Zeit durchgedreht, als es in den Sternen stand, ob mein kleiner Bruder überlebt, und stellte mich zur Verantwortung, wurde zum ersten Mal so richtig aggressiv und handgreiflich mir gegenüber. Irgendwie hatte es dann nie aufgehört. Er hatte einen Hass auf mich. Den Josh hat er immer nur ignoriert."

Jess - Power of DecisionsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt