Dreißig Cent

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„7,45 Euro macht das dann bitte.", bemerkte Merle formgewandt, griff zielsicher nach dem ledernen Geldbeutel an ihrem Gürtel, öffnete ihn und sah ihren Gast erwartungsvoll an. Mit einem freundlichen Lächeln hob sie eine Augenbraue, hoffte, dass er ihr doch noch zumindest ein kleines Trinkgeld zugestand. Doch der adrett gekleidete ältere Herr in dunkelgrauem Anzug schwieg. Natürlich! Merle atmete tief durch, suchte die Münzen im Kleingeldfach zusammen und ließ sie in seine Hand fallen, welche er ihr bereits ungeduldig entgegenstreckte. „Danke", murrte der weißhaarige Mann, warf das Kleingeld in seinen Geldbeutel, bis er schlagartig innehielt: „Sie haben mir zu wenig herausgegeben. Das waren nur 2,25 Euro." Was? Perplex sah Merle auf, runzelte skeptisch die Stirn. Nein, sie war sich sicher. Sie hatte im 2,55 Euro herausgegeben. „Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihnen 2,55 Euro herausgegeben. Ein Zwei-Euro Stück, fünfzig Cent und fünf Cent.", rechtfertigte sie sich bestimmt aber höflich, was den Herrn missmutig schnauben ließ: „Unterstellen Sie mir, dass ich lüge, Fräulein? Ich möchte gerne Ihren Vorgesetzten sprechen". Merle schluckte, atmete tief durch, bevor sie beschwichtigend abwinkte: „Nein nein, schon in Ordnung. Vielleicht habe ich mich getäuscht." – Nein, sie hatte sich sicher nicht getäuscht. Dessen war sie sich sicher und dennoch wusste sie, dass es klüger war einfach nachzugeben, es nicht darauf anzulegen. Sie war froh überhaupt eine beständige Arbeit zu haben und über die Runden zu kommen, da waren Probleme das letzte was sie gebrauchen konnte – Und das wegen dreißig Cent.

„So ein geiziger Idiot", fluchte Merle leise, als sie den Personalraum betrat, ihren Kaffee auf dem kleinen Tisch abstellte und sich auf einen der einfachen hölzernen Stühle fallen ließ. Sie hasste solche Menschen! Eine zarte Vibration in ihrer Hosentasche ließ sie innehalten. Sie atmete tief durch, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, zückte ihr Smartphone und erstarrte. Was war das? Auf ihrem Bildschirm ein ihr unbekanntes App-Symbol. Ein schwarzer Briefumschlag auf weißem Untergrund. Unsicher wischte sie über das Display, wollte lediglich ihren Bildschirm entsperren, als sich ohne ihr weiteres Zutun einfach eine Nachricht öffnete:

Eyk: Er lügt! Du hast ihm richtig herausgegeben.

Mit geweiteten Augen betrachtete Merle das Display ihres Smartphones. „Verdammt", entfuhr es ihr heiser. Wurde sie gehackt? Ein Irrläufer oder erlaubte sich einer ihrer Freunde einen Spaß mit ihr?

Eyk: Du hast ihm 2,55 Euro gegeben. Er hätte zumindest Trinkgeld geben können.

Zögerlich biss sie sich auf die Unterlippe, ließ ihren Finger über dem Bildschirm schweben, bis sie gepackt von ihrer Neugierde doch zu tippen begann:

Merle: Wer bist du?

Eyk: Nur ein stiller Beobachter

Merle: Wenn du ein „stiller" Beobachter wärst würdest du mir nicht schreiben. Wer also bist du? Till bist du es? Das ist nicht witzig...

Eyk: Das werde ich wohl noch ein wenig für mich behalten. Aber lasse dir eines sagen, Merle - Senfgelb steht dir ausgezeichnet.

Merle schluckte, sah mit pochendem Herzen an sich hinab, betrachtete die senfgelbe luftige Bluse, welche locker im Hosenbund ihrer schwarzen Stoffhose verschwand. – Definitiv kein Irrläufer!

Merle: Wer bist du? Und woher hast du meine Nummer?

Eyk: Ein Smartphone hat deutlich mehr zu bieten als nur eine stupide Handynummer...

Merle: Hast du meine Nummer von Amy?

Eyk: Das würde sie niemals tun. Das weißt du...

Merle: Warte, das heißt du kennst sie?

Eyk: Nein. Das wäre übertrieben.

Merle: Was willst du von mir? Ein Date? Sex? Geld?

Eyk: Eigentlich wollte ich mich nur ein wenig mit dir unterhalten, aber deine Optionen gefallen mir zugegebenermaßen ebenso...

Merle: Okay das ist wirklich creepy...

Eyk: Und dennoch antwortest du mir. Du magst es, wenn Adrenalin durch deine Adern schießt, magst das Unbekannte, das Abenteuer - Das Geheimnisvolle. Oder liege ich falsch?

Erschrocken starrte Merle auf die letzte Nachricht, sperrte hastig den Bildschirm ihres Handys und warf es, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt, auf den Tisch vor sich. Was zur Hölle?!

Aufmerksam ließ Merle ihren Blick durch den stilvoll eingerichteten Gastraum des Cafés schweifen, musterte sorgfältig die anwesenden Gäste. Ein älteres Ehepaar, vielleicht Anfang siebzig, Geschäftsmänner, welche sich mit ihren Laptops, ihren Smartphones, in dem bahnhofsnahen Café die Zeit vertrieben, eine junge Frau, vor ihr auf dem Tisch ein Buch. Merle schmunzelte – Fifty Shades of Grey-. Eine Gruppe Studenten, in der Hand jedes einzelnen ein Smartphone. Sprechen wurde wohl überbewertet. An einem kleinen Ecktisch ein junger Mann mit Brille, sein Blick ebenfalls stur auf sein Smartphone gerichtet, am Tisch neben ihm eine Gruppe Mütter mit ihren Kleinkindern, welche den mit Liebe gebackenen Kuchen geradezu um sich warfen, ihn mutwillig auf dem Boden verteilten - Kleine Teufel! Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie eine zarte Vibration in ihrer Hosentasche, wie auch an ihrem Handgelenk verspürte. Was?! Sie schluckte fest, schielte unauffällig auf ihre Smartwatch:

Eyk: „Man könnt' erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären." – Johann Wolfgang von Goethe. Er hat recht, findest du nicht auch?

Schlagartig hob Merle ihren Blick, sah sich wachsam um, bis sie erneut eine zaghafte Vibration verspürte.

Eyk: Ja, ich sehe dich. Aber nein, ich bin mir sicher - Du siehst mich nicht!

Merle biss sich auf die Unterlippe, zog scharf die Luft in ihre Lungen. Das konnte doch nicht sein. Diese Person musste sich mit ihr in diesem Raum befinden und dennoch war niemand auffällig. Niemand sah auf, niemand schmunzelte, niemand verhielt sich auch nur ansatzweise ungewöhnlich. Wer also war diese Person? Ein Mann? Eine Frau? Einer ihrer Stammgäste? Ein Krimineller? Ein Verrückter?

Eyk: Man nennt es Blindheit durch Unaufmerksamkeit. Ein wirklich beeindruckendes Phänomen.

Eyk: Ich werde dich weiter arbeiten lassen... Du hörst von mir, Merle.

„Entschuldigung, kann ich bitte zahlen?", riss sie eine ruhige Stimme aus ihrer Trance, ließ sie erschrocken von ihrer Uhr aufsehen. Der junge Mann mit Brille, auf seinen Lippen ein zurückhaltendes, beinahe schüchternes Lächeln. War er es? „Natürlich", erwiderte sie prompt, zückte ihren Geldbeutel und trat zu dem jungen Mann in Jeans und kariertem Hemd an den Tisch. „Sie hatten nur einen Cappuccino mit Hafermilch?", erkundigte sie sich aufmerksam, was den jungen Mann knapp nicken ließ, bevor er ihrem Blick auswich und nach seiner Geldbörse griff. Merle zögerte, beobachtete den Mann mit blondem kurzen Haar und hellgrauen Augen aufmerksam, bevor sie erneut das Wort ergriff: „Das macht dann 3,80 Euro". Gezielt griff er nach einem Fünf-Euro-Schein, legte ihn auf den Tisch und schob ihn an die Kante des Tisches: „Stimmt so". „Danke", lächelte Merle irritiert, griff nach dem Schein, verstaute ihn in dem ledernen Geldbeutel und kehrte zur Theke zurück, wo bereits die nächste Getränkebestellung auf sie wartete.


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