Ich mache mich auf den Weg zum Sekretariat, das sich im dritten Stockwerk der Schule befindet, um ein Buch zurückzugeben. Mason brachte letztens ein Physikbuch mit, das er extra für die Nachhilfe ausgeliehen hatte. Ich laufe schneller als sonst, da ich einfach nur schnell nach Hause möchte.
Letztes Mal ging es Kyle überhaupt nicht gut. Er kam völlig erschöpft vom Krankenhaus zurück und musste sich ein paar Mal übergeben.
Ich klopfe sachte an die Tür, bis eine zarte Stimme ertönt und mich in den Raum bittet.
"Einen Moment bitte. Bis man das Buch im System findet, dauert es immer Ewigkeiten. Sie müssen sich kurz gedulden", sagt die Sekretärin nachdem ich ihr das Buch gereicht habe. Ich nutze die Zeit um mich im Sekretariat etwas umzusehen. Oft muss ich hier zum Glück nicht hin, denn es sieht nicht gerade gemütlich aus. Eigentlich kommt man hier nur her, wenn man etwas abgeben oder abholen muss und wenn man Ärger gestiftet hat.
Meine Aufmerksamkeit fällt auf eine Türe, an der ein Schild mit der Aufschrift "Nicht stören!" hängt, die zum Zimmer des Schuldirektors führt. Aus dem Zimmer sind laute Stimmen zu hören.
"Jetzt hab ich es gefunden. Ich drucke Ihnen noch kurz den Beleg aus, den Sie einem gewissen Mason Evans überreichen müssen. In Ordnung?", fragt sie nach. Es hört sich jedoch aber eher so an, als würde sie überlegen, was ich bitteschön mit Mason zu tun habe.
Was haben nur alle gegen ihn? Klar ist er kein Gentleman gegenüber uns Frauen, aber wenn es wirklich darauf ankommt, dann kann er sehr nett und hilfsbereit sein. Ich bin ihm dankbar, dass er mir so gut in Physik hilft. Mittlerweile habe ich mich schon um eine ganze Note verbessert und auch im Unterricht verstehe ich die Sachen viel einfacher. Die letzten paar Nachhilfestunden liefen extrem gut und es macht sogar schon fast Spaß mit Mason zu üben und lernen.
"Ja. Dankeschön", bedanke ich mich bei ihr.
Links neben mir geht die Türe auf und der Schuldirektor tritt heraus.
"Also Herr Davis. Ich hoffe es bleibt bei nur diesem Vorfall. Ich würde mir wirklich sehr wünschen, Sie nicht erneut hier oben begrüßen zu müssen", sagt er zu Tyler und schüttelt ihm die Hand.
Tyler hingegen antwortet gar nichts, sondern verzieht nur leicht sein Gesicht. Er sieht genervt aus und verlässt den Raum mit einem zügigen Schritt.
"Schönen Tag noch, Herr Davis", ruft die Sekretärin ihm zu, worauf Tyler kein Bisschen reagiert. Er muss mich bemerkt haben, jedoch hat er meinen Blick gezielt ignoriert.
"Hier ist auch Ihr Beleg."
"Vielen Dank und Ihnen noch einen schönen Tag."
Als das letzte Wort aus meinem Mund ertönt, greife ich nach dem Beleg und verschwinde augenblicklich aus dem Raum. Ich versuche Tyler hinterherzukommen. Ich muss mit ihm reden und fragen, was das im Unterricht letztens war, denn ich habe noch nie erlebt, dass Tyler auch nur ansatzweise frech oder gar unverschämt einem Lehrer gegenüber war. Was genau ich ihm dann sagen würde, weiß ich zwar im Moment noch nicht so genau, aber warum auch immer, habe ich das Bedürfnis ihm hinterher zu laufen.
Verdammt, wie schnell ist er denn bitte? Ich erreiche erschöpft den Parkplatz und sehe nur noch, wie Tyler mich kurz ansieht und dann in sein Auto steigt, den Motor aufheulen lässt und mit Vollgas den Parkplatz verlässt.
Na super...Ist jetzt eh egal. Ich muss zu Kyle.
Auf dem Nachhauseweg strömen meine Gedanken nur so in meinem Kopf herum. Was wenn es ihm nicht gut geht und er wieder spucken muss? Was kann ich machen? Ich will ihm ja helfen, aber weiß nicht wie.
Ich drücke den Türgriff nach unten und betrete das Haus. Meine Tasche landet mit Schwung in der Ecke und ich schlupfe schnell aus meinen Nikes raus. Das Wohn-und Esszimmer scheinen leer zu sein. Er muss in seinem Zimmer sein. Ich bewege mich in Richtung des Zimmers. Doch statt meinem schlafenden Bruder, finde ich nur sein leeres Bett vor. Wo ist er? Er müsste doch schon längst wieder hier sein.
Ich höre, wie sich der Badezimmerschlüssel im Schlüsselloch dreht und die Türe verriegelt wird.
"Kyle? Ich bin wieder da. Ist alles in Ordnung bei dir?", frage ich besorgt nach.
"Ja. Keine Sorge ich komme gleich."
Ich erkenne an seiner Stimme sofort, dass etwas nicht stimmt und er mir etwas verheimlichen möchte. Sie klingt stockender und kratziger als sonst. Als nächstes vernehme ich ein Würgen und Husten im Bad. Er spuckt also wieder. Das kann so nicht weitergehen. Ich klopfe mit der Faust gegen die Tür, in der Hoffnung, dass er mich rein lässt. "Kyle...bitte lass mich rein."
"Geh einfach schon mal vor. Ich komme gleich nach. Du musst dir so etwas echt nicht mit ansehen. Es reicht schon wenn ich das sehe."
An seiner Stimme ist deutlich zu spüren, dass er Angst hat. Seitdem er mir von seiner Krankheit erzählt hat, ist er zurückhaltender und auch vorsichtiger geworden, bei allem, was er macht. Obwohl er grundsätzlich nicht mehr viel unternimmt. Meistens schließt er sich in seinem Zimmer ein, schaut aus dem Fenster und möchte nicht reden. Auch wenn er es nicht zugeben möchte, weiß ich genau, wie besorgt er um diese Situation hier ist. Er hat Angst das etwas schief laufen könnte.
"Auf keinen Fall! Ich bin für dich da. Egal wie es dir geht und es ist sicherlich nicht das erste Mal, dass ich dich spucken sehe. Also lasse mich jetzt rein. Sofort", sage ich nun etwas lauter und spüre, dass ich unruhiger werde. Warum macht er nicht auf?
Ich höre, wie es im Badezimmer kurz lauter wird und die Toilettenspülung betätigt wird, bevor sich der Schlüssel im Loch dreht und die Türklinke nach unten gedrückt wird. Kyle steht mit einem Grinsen im Gesicht vor mir.
"Siehst du...alles prima. Könnte mir nicht besser gehen."
Ich ziehe eine Augenbraue musternd nach oben. "Ich glaub dir kein Wort", sage ich und laufe ihm hinterher in die Küche.
"Soll ich dir was kochen?", fragt er mich, ohne mich auch nur anzusehen.
"Kyle? Du musst auch was essen!"
Seit der letzten Chemo isst er immer weniger und ich vermute fast, dass wenn ich ihn nicht ständig daran erinnern würde, er überhaupt nichts mehr essen würde. Auch seinen Klamotten sieht man es an. Er ist früher oft trainieren gegangen und hatte deshalb auch einen guten und gesunden Körper, an dem mittlerweile nur noch Knochen hängen.
"Ich verspreche dir, dass ich sobald ich wieder gesund bin, mehr essen werde. Mach dir darum bitte keine Gedanken. Ich muss zuerst einmal dieses Ding aus meiner Brust bekommen und dann kann ich mich auch wieder normal ernähren. Also...was willst du?"
"Nein! Kyle, du musst was essen! Wenn du nichts mehr isst, kann dein Immunsystem auch nicht richtig arbeiten. Du musst doch fit sein...sonst schaffst du das nicht", gebe ich mit zitternder Stimme von mir. Ich spüre, wie mir eine Träne die Wange herunterrollt. Ich wische sie schnell weg, bevor Kyle sie sieht. Er hat genug Probleme und braucht nicht auch noch mich als Last.
"Ich habe aber keinen Hunger!", schreit er mir mit dem Rücken zugewendet entgegen und schmeißt das Küchentuch aggressiv auf die Seite, bevor er in seinem Zimmer verschwindet.
Ich stehe immer noch wie angewurzelt da und spüre, wie meine Füße unter mir langsam nachgeben wollen, weshalb ich schnell den Stuhl nach vorne ziehe, um mich hinsetzen zu können. Das mit Kyle kann so nicht weitergehen. Ich habe mittlerweile Angst ihn nicht an der OP oder an dem Krebs zu verlieren, sondern an den Nebenwirkungen der Chemo. Das hält er so auf Dauer nicht aus. Niemals!
Hätte diese verdammte Rezeptionsschnalle ihm einfach zeitnah einen OP-Termin gegeben, dann wäre das alles kein Problem mehr und er wäre schnell erlöst von der Chemo. Wenn Kyle schon nichts daran ändert, dann muss ich das eben.
Noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, rufe ich Grace an. Ich habe ihr nie erzählt, was eigentlich bei mir los ist.
Wir sind beste Freunde, seitdem wir auch nur denken können und jetzt gerade brauche ich einfach jemanden, der für mich da ist und mir hilft. Ich weiß bei Kyle langsam wirklich nicht mehr weiter.
Ich kann nicht mehr. Und Kyle erstrecht nicht...
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Touching Hands
RomanceGeprägt von ihrer Vergangenheit vertraut Mia niemandem mehr, außer ihrem großen Bruder Kyle. Seit sie von zu Hause rausgeworfen wurde, lebt sie bei ihm. Mia hält seit ihrer Kindheit Abstand zu anderen. Besonders was Jungs angeht, bleibt sie distanzi...