Ich will das rote Kleid!

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Das Gute an Sünden ist, dass man nicht sofort für sie büßen muss. Und das rote Kleid war viel zu perfekt, als dass ich es mir hätte entgehen lassen. Deshalb rannte ich nun in dem schönsten roten Kleid aller Zeiten gefolgt von der Ladenverkäuferin durch halb Buenos Aires - was in hochhackigen Schuhen viel schwieriger war, als es eigentlich aussah. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich gerne meinen Bruder zur Hilfe gehabt hätte. Aber er war wie immer genau dann nicht da, wenn ich ihn brauchte. Verzweifelt kramte ich einen Bonbon aus der Tasche und hielt ihn hoch, in der Hoffnung, Mati würde wenigstens seiner Liebe zum Essen folgen. Doch es funktionierte nicht, also steckte ich den Bonbon wieder ein. 

Ich blieb kurz stehen und sah mich nach meiner Verfolgerin um. Auch wenn sie die Schuhe längst abgestreift hatte und wie wild nach der Polizei schrie, lag ich schon so weit vorne, dass sie gerade einmal so groß wie meine Brieftasche schien. Eigentlich tat sie mir leid, denn obwohl mir meine Füße wehtaten, hatte ich gut und gerne noch Kraft für einige Meilen. Und auf diese klitzekleine wütende Verkäuferin konnte ich nicht sauer sein. Aber mein Kleid bekam sie trotzdem nicht zurück! 

Also holte ich tief Luft und begann wieder zu rennen. Sie kam sowieso nicht hinterher und wenn mein Bruder Mati zuhause war, konnte er mir wenigstens erklären, was ich tun musste. Weshalb ich mir dieses superschicke Kleid nicht einfach ausleihen konnte, bis ich wieder Geld bekam, verstand ich nämlich ganz und gar nicht. Es war perfekt, ich war perfekt und es passte mir perfekt. Das war alles, das mich daran interessierte. Für Geld war Mati zuständig, mit diesen Papierstücken konnte ich nichts anfangen. Und außerdem war die Verkäuferin selber schuld, wenn sie meine Kreditkarten immer nur kaputt machte. 

Noch einmal legte ich an Tempo zu, dann war ich auch schon angekommen. Zum Glück kannte ich den Weg zum Laden so gut, dass ich mich nicht verirren konnte. Und auch wenn es furchtbar weit bis zur Pension war, wäre eine Fahrt mit einem dieser abscheulichen Busse viel schlimmer gewesen. Nein, wenn ich mir gleich ein schönes entspannendes Schaumbad einlassen würde und Mati mir dazu gleich noch grünen Tee brachte, würde schon alles wieder in Ordnung kommen. 

Ich klopfte. Wie immer hatte ich meinen Schlüssel irgendwo bei mir - nur wo ich ihn hingetan hatte, fiel mir einfach nicht ein! Aber außer mir klopfte sowieso nur die Polizei, da wusste er wenigstens, dass es wichtig war. 

Lauschend legte ich meinen Kopf an die Tür und wartete. Leise Schritte trippelten von drinnen in meine Richtung und dann war es wieder still. Genervt richtete ich mich wieder auf. "Ich bin's, Mati!" 

Mit einem Strahlen im Gesicht öffnete er die Tür. "Willkommen zurück, Schwesterherz. Du siehst wieder perfekt aus!", begrüßte er mich. Irgendetwas heckte er aus, sonst war er nie so freundlich zu mir. 

"Was hast du vor? Ich warne dich, wenn du es mir nicht verrätst!" Ich stupste die Tür zur Seite und sah ihn wütend an. Er wich ein Stück zurück und ich ein wenig auf ihn zu. Er blickte mich aus seinen blauen Augen wie ein Hund an, der geschlagen wurde. Doch damit würde er keinen Erfolg haben! Nicht schon wieder! Aber egal, was er auch angestellt hatte, eigentlich war er doch nett. Und worauf sollte ich schon sauer sein, wenn ich noch gar nicht wusste, was er getan hatte? 

Ich griff nach der Tür und knallte sie hinter meinem Rücken ins Schloss. "Was hast du gemacht, Mati?", versuchte ich es etwas netter. 

"Wärst du sehr böse auf mich, wenn ich etwas ausrauben würde?" Er wich noch weiter zurück. 

"Gar nicht! Ich habe heute etwas Ähnliches getan." Einerseits war ich froh, dass er nicht auf eine schlechte Idee gekommen war, andererseits war ich böse. Kannte er mich wirklich so schlecht? Natürlich hatte ich nichts gegen einen Überfall, solange er nicht meinen Verlobten ausrauben wollte. 

"Super!" Er nahm mich jauchzend in den Arm und ich konnte auch nicht länger auf ihn wütend sein. 

"Sind wir jetzt wieder Millionäre, Mati?" Endlich konnte ich wieder in den Spa, konnte mir meine Lieblingskleider in meinen Lieblingsboutiquen kaufen und all die anderen schönen Sachen machen! 

"Nicht ganz, aber für einen kleinen Urlaub reicht das Geld aus der Bank." Er grinste mir zu und ich jubelte! Urlaub! Endlich wieder! Mir kam die Zeit in dieser Pension nur mit einem einzigen Zimmer für mich ewig vor. Und außerdem hatte ich schon fast alle meine Kleider so oft in der Stadt getragen, dass man mich für stillos halten musste. Aber auf einer dieser kleinen schönen Inseln in diesem großen schönen Ozean hier in der Nähe wäre ich bestimmt die Modischste von allen! 

"Wohin geht es? Hast du schon die Flugtickets?" Ich hatte in diesem winzigen Schrank meine ganze Kleidung gar nicht verstauen können, also brauchte ich keine fünf Minuten, um alles fertig zu packen. 

Er zögerte mit der Antwort. "Was hast du überhaupt ausgeraubt?", wich er meiner Frage aus. 

"Na den Laden, in dem ich einkaufen war!" Manchmal war mein Bruder wirklich langsam beim Denken. 

"Und was hast du erbeutet?" Er war definitiv nicht die hellste Leuchte. Aber das machte nichts, schließlich war ich genial. 

"Natürlich dieses wunderbare Kleid!" Ich drehte mich in dem roten Kleid, sodass sich der Rock ein wenig hob. 

Erst starrte mich Mati schockiert an, weshalb, verstand ich nicht. Dann aber lächelte er. "Du wirst wirklich großartig bei unserem Urlaub aussehen!" Er warf einen Blick auf seine schwarze Armbanduhr. "Aber jetzt müssen wir los. Mein Gepäck ist schon im Kofferraum, es fehlt nur der letzte deiner drei Koffer. Du weißt doch, wie man einen Motor startet?" 

"Aber natürlich, Mati! Wann soll ich das machen?" Es war mir nicht ganz klar, worauf er hinauswollte. 

"Jetzt wäre am Besten. Starte den Motor und warte dann auf mich, ich hole nur den Koffer." Er rannte schon auf die Treppe zu und hinauf. 

Auf halbem Wege fiel mir noch etwas ein. "Wo sind die Schlüssel?" Ohne Schlüssel konnte ich schließlich nichts machen und wenn der Flug schon so bald ging, dann durften wir uns auf keinen Fall verspäten. 

"Fang, Schwesterchen!" Er kramte sie aus seiner Hosentasche und warf sie mir zu. Mit beiden Händen schnappte ich danach, erwischte sie und machte mich auf den schnellsten Weg zum Wagen. 

Als ich in der Ferne Polizeisirenen hörte, als der Motor gerade ansprang, wurde mir alles klar. Dieser Schuft! Er hatte mich hereingelegt! Es ging gar nicht in den Urlaub, wir flohen gerade vor der Polizei! Wäre ich nicht so gewöhnt daran, wäre ich wieder durchgedreht. Stattdessen beruhigte ich mich und atmete tief ein und aus. Wenn wir schon flohen, dann richtig! 

Mati rannte so schnell er konnte zum Kofferraum und ich sah im Rückspiegel, wie er den Koffer hineinpackte und die Klappe zuschlug. Kurz überlegte ich, ob ich auf die rechte oder die linke Pedale treten musste, dann ließ ich den Zufall entscheiden. Als der Wagen einen Satz nach vorne machte und los fuhr, jubelte ich. Ich hatte nicht eine einzige Fahrstunde hinter mir und schon klappte alles! 

Mein Bruder sprintete nach vorne und kletterte noch in das Auto hinein, bevor wir schon durch die Gegend bretterten. Er zog die Beifahrertür zu und bewegte irgendeinen Knüppel zwischen den Sitzen hin und her, bis wir ordentlich an Fahrt angenommen hatten. 

Ich jubelte laut und hob die Hände in die Luft vor Freude. Das Lenkrad bewegte sich und wir hätten ein anderes Auto geschrammt, hätte Matti nicht schnell das Lenken übernommen. Aber dazu waren wir auch Geschwister. Irgendwie schafften wir alles. Und so schnell würde mir niemand mein rotes Kleid mehr wegnehmen. 

Ein Kleid so rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt