Geschwisterliebe, Geschwisterhass und fliegende Untertassen sind normal!

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"Ich hasse dich, Mati!", schrie ich und die nächste Untertasse flog durch die Luft. "Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!" Mati musste einen großen Sprung machen und der Teller verfehlte seine Beine nur um wenige Zentimeter. 

"Ich hasse dich!" Jetzt musste er sich bücken, denn ich hatte einen Korb voller Äpfel erwischt, die ich nacheinander abfeuerte. 

"Jade, wir müssen aber in zwei Wochen weg!" Er fing einen Apfel und bis hinein. Wie immer verstand er den Ernst der Lage nicht. Ich wollte nicht fort aus Ciudad de Caballos! Ich liebte diese Stadt, ich liebte diese Arbeit und ich wollte nicht zurück in diese winzige Pension mit gemeinen Leuten um mich herum, die mich für dumm hielten! 

"Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!", brüllte ich so laut ich nur konnte und war auch noch den Korb nach ihm. Mich würde er hier nicht wegbekommen! 

"Am Ende bemerkt noch jemand, dass wir von der Polizei gesucht werden und dann kommen wir gar nicht mehr aus Argentinien heraus!" 

Ich erstarrte. Er wollte Argentinien verlassen? Weshalb? Meinetwegen konnte ihn die Polizei mitnehmen und ich würde hier bleiben. Mehr als ein paar Monate würden sie ihn sowieso nicht behalten und so lange konnte ich auf ihn verzichten. Nein, wenn er gehen wollte, dann ohne mich! 

"Ich will nicht weg! Und wenn du mich lieben würdest, würdest du das auch nicht von mir verlangen! Ich bin hier glücklich! Und ich hasse dich!" Ich holte den letzten Stapel Untertassen aus dem Schrank in der Küche und schmiss sie nach ihm, in der Hoffnung, ihm genauso viel Schmerz zuzufügen, wie er es gerade mit mir getan hatte durch seine Worte. Wir waren schon eineinhalb Wochen hier und seit ich die kleine Prinzessin von Mama und Papa gewesen war, hatte ich mich nicht so wohl gefühlt. 

"Aber denk an deinen Verlobten!" 

Ich hielt mitten im Wurf inne. An ihn hatte ich nicht gedacht. Auch gestern und vorgestern hatte ich nicht an ihn denken müssen. Ich hatte einfach die Zeit hier genossen, als hätte ich gar keinen Verlobten. Aber ich liebte ihn doch! Ich hatte ihn doch schon zehn Jahre geliebt, wie konnte ich überhaupt etwas anderes tun? Ich musste doch zurückkehren! Aber es gefiel mir doch so sehr hier ... 

"Wir müssen erst raus aus Argentinien, das meiste Geld verpuffern - du darfst dir so viele Kleider kaufen, wie du willst - und dann zurückkehren und so tun, als wären wir nie im Laden und in der Bank gewesen. Dann hast du dein rotes Kleid, ich mein Geld, wir beide einen schönen Urlaub und werden auch nicht verhaftet. Und dann kannst du in perfekter Aufmachung wieder in dem Glanz erstrahlen wie vor unserer Pleite." Er hatte sich wieder aufgerichtet und kam langsam näher. 

Es war ein Traum, nein, genau das war immer mein Traum gewesen. Ein perfekter Ehemann, ein perfektes Kleid, ein perfektes Make-Up und niemand durfte mir mehr sagen, was ich zu tun hatte, weil ich eben die schönste Frau von ganz Buenos Aires war. Doch hatte ich hier nicht eigentlich schon alles? Konnte es hier nicht genauso schön sein? Ich begann zu weinen. Wieso war das alles immer so schwierig? 

Mati legte sanft einen Arm um mich und strich mir über den Kopf. Oh, wenn sie ihn verhaften würden, würde ich ihn so sehr vermissen! Nein, das durfte nicht passieren. Nicht schon wieder. Aber wieso musste ich für diese klitzekleine Chance für ein Leben wie früher alles aufgeben? 

"Ruhig, Schwesterchen. Alles wird gut. Du musst nicht weinen." Er war wirklich der beste Bruder aller Zeiten, obwohl er mich erst in dieses Chaos hineingebracht hatte. Aber er war nicht Schuld daran. Nein, Schuld daran waren diese ganzen Idioten ohne Stil. Ja genau, in meiner Familie waren schließlich alle so perfekt wie ich und deshalb durfte ich jetzt auch nicht weiter mein Make-Up zerstören. Ich richtete mich wieder auf und Mati kramte ein Taschentuch heraus, mit dem er mir die Tränen abtupfte. 

"Du siehst wirklich grauenhaft aus, Jade", meinte er nachdenklich. Ich begann wieder zu heulen. Auch wenn ich danach total verschmierte Wangen und aufgequollene Augen haben würde, es war mir egal! 

"Nicht weinen, Schwesterchen. Ich sorge schon dafür, dass du deinen Verlobten zurückbekommst, wir in diese riesige Villa ziehen und du jeden Tag so viele Kleider kaufen kannst, wie du nur willst. Aber wenn du noch weiter weinst, muss ich am Ende auch weinen." Ich sah ihn an und bemerkte, dass auch ihm die Tränen in den Augen standen. Manchmal war mein Bruder wirklich die einzige Person der ganzen Welt, die für mich da war. Genau dafür liebte ich ihn. Und natürlich auch dafür, dass er fast immer eine Möglichkeit fand, dass ich schöne neue Kleider bekam. 

Eigentlich wollte ich ihm eine ganz wichtige Frage stellen, aber ich traute mich nicht. Es würde ihm bestimmt das Herz brechen. Seit so vielen Jahren versuchte er schon, dass ich endlich heiraten konnte, in einer Villa leben durfte und so schön aussah, wie es ging. Ich versuchte es natürlich auch, selbst wenn alles drei gleichzeitig einfach nicht funktioniert hatte. Aber was, wenn es noch etwas Besseres außerhalb von Buenos Aires gab? Ich wusste nicht weiter. Zum ersten Mal hatte ich mich richtig glücklich gefühlt. Doch mein Bruder würde es nicht verstehen. 

Ein Kleid so rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt