April 1983
Verkrampft hielt ich meinen Stadtplan fest umklammert, aus Furcht er könnte mir in diesem Gewusel von Menschen und Fahrzeugen, Straßenstaub und herrenlosen Tieren abhandenkommen. Dann wäre ich hier, in der schwülen, stickigen Luft dieses Durcheinanders hoffnungslos verloren. Unter all diesen Leuten fühlte ich mich einsamer als in der Heimat allein in den Bergen. Ich sehnte mich nach den kommenden Tagen im leeren Nirgendwo, doch jetzt kämpfte ich mich noch durch die fremde Zivilisation. Ich hatte einige Tage hier verbracht, in Kathmandu, zur Akklimatisierung an das ungewohnte Klima und die vollkommen andere Kultur. Ich besuchte die heiligen Tempel der Stadt, welche entsprechend ihres eindrucksvollen Alters zu zerbröseln drohen. Zwischen den Dächern wehten farbenfrohe Gebetsfahnen. Dort auf den überfüllten Plätzen war das Leben der Einheimischen zu spüren. Die vielen Menschen gingen ihren Beschäftigungen nach, verkauften an Warenständen auf dem Boden ihre bunten Produkte von Kunstwerken, Handarbeiten, Teppichen und Schmuck bis hin zu Gewürzen und Lebensmitteln. Männer saßen unter stinkenden Qualmwolken beisammen, rauchten, erzählten oder meditierten. Man sang und spielte verschiedenste Instrumente. Nebendran spielten Kinder miteinander, mit Tauben und Affen. Im Fluss badeten die Menschen mitten in der Stadt. Tote wurden im Gedränge feierlich brandbestattet. Müll verschandelte die Gegend an jeder Ecke, wohin man auch sah. Die merkwürdigen, überbeladenen Fahrzeuge gaben zudem einen entsetzlichen Gestank ab. Meine Lunge rauchte, meine Augen brannten nach kurzer Zeit in dieser unreinen Luft. Nach jedem Ausflug und den unzähligen Eindrücken der Gerüche, des Lärms, der unübersichtlichen Straßen … Ach wahr ich jedes Mal froh zum Hotel zurückgefunden zu haben und in meinem kleinen, übersichtlichen Zimmer zu verschwinden. Großstädte und Menschenmengen waren einfach nichts für mich.
Wie ich so durch die Straßen irrte, zwischen den ruinenhaften, halb fertigen, halb maroden Dauerbaustellen von hoch aufragenden Gebäuden, mit meinem Stadtplan vor der Nase, wurde ich von Einheimischen teils interessiert, teils missmutig beäugt, schrie doch mein gesamtes Aussehen nach TOURIST: großer Strohhut, Sonnenbrille, Fotokamera um den Hals gehängt, ein luftiges aber angemessenes Sommerkleid und von Sonnencreme glänzende, blasse Haut. Von den anderen meinesgleichen, ebenso Reitz überflutet wie ich, wurde ich schlicht übersehen und des Öfteren vom Weg gerempelt.
Nach einer weiteren Abbiegung erkannte ich das farblich verblasste Aushängeschild meines Hotels. Flinken, ungeduldigen Schrittes strebte ich dem dicken schwarzen Punkt auf dem Stadtplan in meinen Händen entgegen.
Die Tür schloss sich hinter mir und das laute, unruhige Straßentreiben wurde erstickt. Im Foyer summte und bimmelte leise die beruhigende nepalesische Musik vor sich hin. Ich grüßte im Vorbeigehen die kleine Dame hinter dem Empfangstresen, die sich selig, wie in ihrer Wohnstube, gemütlich ihrer Handarbeit widmete. „Namasté.“ „Namasté!“, wurde es mir freundlich erwidert.
Ob sie später auch diejenige sein wird, die das Abendessen bereitet? Bis auf einen jungen Kellner im Speiseraum hatte ich außer ihr nirgends anderes Hotelpersonal getroffen.
Das Zimmerchen war einfach und schlicht, doch vor allem sauber, weshalb ich mich hier recht wohlfühlen konnte. Eine warme, wohlig umnebelnde Dusche spülte mir sanft und entspannend den Straßenstaub vom Leib. Das wird wohl eine der letzten sein, für die kommenden Tage. Sauber kuschelte ich mich auf das Bett, schrieb meine wirbelnden Gedanken des Tages in mein Notizbuch und starrte gelegentlich durchs Fenster auf die lebendige Straße hinunter. Ich fühlte mich eingehüllt in meinem Zimmerchen meilenweit von dem Trubel dort draußen entfernt.
Anschließend packte ich meinen Trekking-Rucksack ein weiteres, nun drittes Mal hier in Kathmandu, nach all den Proben zu Hause. Nur nichts vergessen!
Zum Abend gab es wieder das übliche „Dal Bhat“, ein schmackhaftes, würziges, grünliches Reisgericht, welches ich gut vertrug und von dem ich wusste, was mich erwartet. Die morgige Reise würde aufregend genug, da brauchte ich einen ruhigen Magen.
Bereits dieser unspäktakuläre Aufenthalt allein in Kathmandu fühlte sich an, wie ein schrecklich ungewohntes Abenteuer. Wie sollte das in den Höhen des Himalayas werden? Ob ich mich zwischen den majestätischen, stillen Bergen heimischer fühlen werde, als in dieser unruhigen Großstadt?
Ich war nicht die schnellste Läuferin und ganz bestimmt keine gute Fels- und Eiskletterin, doch ich genoss es, weite Wege für mich allein zu gehen, meinen Gedanken nachhängend, die faszinierende Schönheit der Welt erkundend. Schritt für Schritt kam ich dabei meinen Grenzen näher, sowie mir selbst. Wer bin ich? Was ich nicht bin und nicht konnte, wurde mir bei meinen Reisen bewusster, wenn meine Träume größer waren, als meine Physis. Dann kehrte ich mit der Erfahrung des Scheiterns zurück, zergrübelte die Gründe dafür und versuchte es anschließend erneut, über mich selbst hinauswachsend. Damit wandelte sich jenes, wozu ich fähig war, mit jedem Aufbruch. Nun war mein Ziel, in höherer Höhe zu wandern, die Welt dort oben zu entdecken und zu begreifen, wo ich bisher niemals war. Ich wollte die Spitze der Welt sehen, den Mount Everest. Er ist die Grenze des menschenmöglichen. Dieser Berg, unbezwingbar für mich, zeigt mir eindrucksvoll meine Beschränktheit und Winzigkeit in der prachtvollen, weiten Welt und wird mich Demut lehren.
Viel zu zeitig ging ich zu Bett, noch einmal richtig schlafen vor meinem Aufbruch ins Himalaya.
Der Morgen kam umso schneller. Meinen sperrigen, schweren Lederkoffer konnte ich unmöglich mit auf mein Höhentrekking nehmen. Allein die Vorstellung kam einer überspitzten Karikatur eines europäischen Touristen gleich. Ich hinterließ also das unnotwendige Reisegepäck bei der Kofferaufbewahrung, wie es so üblich war. Wir sehen uns in 16 Tagen, liebe Bücher, luftige Sommerkleidchen, duftendes Parfum und große Shampoo-Flasche. Ich werde mich auf euch freuen!
Mit meinem Fünfzehn-Kilo-Rucksack stiefelte ich los zum Shuttle-Bus.
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WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCH
AdventureEin lebensveränderndes Abenteuer einer jungen Frau.