Weitreichende Entscheidungen ...

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Als ich rückwärts zu meinem Koffer ging, knarzte eine Holzdiele unter meinem Fuß entsetzlich laut. Ein Schauer huschte über mich. Thomas blickte von seinem Papier auf. Mit aufgerissenen, müden Augen sah er mich an. „Komm herein, ich bin fertig.“, bat er mich mit rauer, heißerer Stimme. Ich rührte mich nicht. Ich wollte doch gehen! Er kam zu mir und zog mich sanft an der Hand zum Tisch, setzte mich auf seinen Schoß und hielt mir einen Bogen Papier vor die Nase.

Testament …

Erschrocken sah ich ihn an, fiel fast von seinen Knien. „Bitte lies es.“ Er vermachte alles mir. Kastelbell, die Bauernhöfe, sein Vermögen das er irgendwo hatte. Ich sprang auf. „Thomas, darum geht es nicht!“, wisperte ich. Er ließ mich nicht weiterreden, sondern öffnete zwei Aktenschränke. „Hier steht alles drin, was du wissen musst. Über die Verwaltung der Burg und der Höfe. Oder für deren Verkauf. Hier sind auch zwei Manuskripte für Bücher, die du verkaufen kannst. Ich verspreche dir, es wird dir niemals an etwas mangeln. Du bist abgesichert, brauchst dich nicht zu fürchten.“ Ich brachte vor Entsetzen kein Wort hervor, also sprach er weiter. „Bis zu meiner nächsten Abreise kennst du reden Pächter und jeden Winkel vom Anwesen, kennst alle Pläne. Wenn du mich nicht zur nächsten Expedition begleiten möchtest – du könntest anschließend deine Fotografien verkaufen – vertraue ich dir die Verwaltung von Kastelbell an.“ „Das kann ich nicht.“ „Oh doch, sag so etwas nicht. Wie du gestern die Situation bei dem Brand geregelt hast, kannst du die Höfe auch außerhalb einer Ausnahmesituation managen.“ „Ich wusste überhaupt nicht, was ich tue!“ „Deine Instinkte haben dich geleitet. Es steckt alles in dir, was du brauchst.“ Ich verlor die Fassung, sank in einen Sessel und schüttelte nur wild mit dem Kopf, das mir schwindlig wurde. Das Zimmer drehte sich wankend. Er hat den Verstand verloren!
„Du hast gestern gemurmelt, dass du mich liebst.“ Stellte er klar. Wie bitte? Wann? Ja, es stimmte, aber ich konnte es nicht sagen. Schon gar nicht gestern, wo es alles noch schlimmer gemacht hätte. Es muss unbemerkt im erschöpften Schlaf gewesen sein. Ich war vollkommen fassungslos.
„Ich bitte dich, bleib bei mir! Ich verspreche dir, es wird dir gut gehen.“ Er sprach ganz ruhig und ernsthaft.
„Ich kann dir nicht bei deinen lebensgefährlichen Abenteuern zusehen. Ich kann dich aber auch ebenso wenig bitten, damit aufzuhören. Verstehst du überhaupt nicht, wie mich die Vorstellung umbringt, dir könnte etwas zustoßen?“ „Du hast Angst mich zu verlieren und stößt mich deswegen zurück? Du musst zugeben, dass das keinen Sinn ergibt.“ „Nein, es ist nicht sinnvoll.“ Es war dennoch das, was mir schwer auf der Seele lag. Ich hatte verstanden, dass ich mich bei ihm nicht um mich selbst sorgen bräuchte. Und um ihn würde ich mich auch aus der Ferne sorgen. Vielleicht sogar von dort noch mehr, da ich nicht wissen würde, was vor sich geht. Aber ich würde ihm mit meinen Sorgen und Ängsten nicht auf die Nerven gehen, ihn belasten und zurückhalten.
Wir starten einander an, er hinterm Schreibtisch, ich im Sessel. Wollte er jetzt sofort eine endgültige, lebensentscheidende Antwort von mir? Das kam einer Eheschließung gleich. Wir hatten kaum eine Woche miteinander verbracht. Die Spannung in diesem Raum konnte ich nicht länger ertragen. „Ich gehe spazieren.“ Er ging mir nach, um sicher zu gehen, dass ich nicht davonlief.
Ich ging immer weiter, über jeden Hof, jedes Feld, jede Mauer die er mir gezeigt hatte. Das alles gehörte uns, das alles galt es zu bewirtschaften. Die Arbeit würde uns nie aus gehen. Ich inhalierte die warme Sommerluft. An einem Brunnen stillte ich meinen Durst. Thomas blieb die gesamte Zeit mit etwas Abstand hinter mir.
Irgendwann stand ich vor der abgebrannten Scheune. Die Kinder kamen angelaufen, umarmten mich herzlich lachend. Ihre Freude brachte mich zum lächeln, meine erbitterten Wangen verzogen sich schmerzhaft. Von Thomas hielten sie respektvollen Abstand. Sie wollten mir unbedingt das neue improvisierte Gatter für die Tiere zeigen. Die Eltern waren fleißig bei der Arbeit. Thomas erkundigte sich, was sie brauchten. Wir packten mit an. Am Nachmittag servierte die Mutter, Bernadett heißt sie, einen mächtigen, süßen Kuchen mit extra Schlagsahne.
Es dämmerte bereits, die Grillen begannen zu zirpen, als wir uns von der fröhlichen Runde verabschiedeten. Er nutzte die Gelegenheit und schnappte mich an der Taille. Noch in Sichtweite der Familie konnte ich ihm schließlich keine Szene machen. „Erklär mir doch nochmal, was genau du nicht kannst? Du hast die Arbeit hervorragend gemacht.“, sprach er mich neckend auf unsere Diskussion heute Morgen an. Er war voller zurückgewonnener Energie und Selbstvertrauen. „Ich spreche kein Italienisch.“, verwirrte ich ihn mit einem Lächeln auf den Lippen durch diese unerwartete Antwort. „Ha! Das bringe ich dir schon bei!“ Er lachte herzlich, was meine Seele wärmte. War es nun also entschieden?
Zurück auf der Burg wusch ich mir in der Dusche den stolzen Arbeitsschweiß ab. Thomas gesellte sich zu mir. Endlich küsste er mich wieder.
Den nächsten Morgen verbrachten wir friedlich auf der Terrasse im Innenhof. Wir schmückten die überdachenden Bäume mit Lichterketten und bunten Gebetsfahnen aus Nepal. Er tänzelte waghalsig über die Äste.
„Bald muss ich trotzdem zurückfahren.“, murmelte ich. Er viel fast von der Leiter, hätte ich ihn nicht von unten gesichert. Nun sah er mich zornig an, diese traute Zweisamkeit zerstört zu haben. „Meine Urlaubswoche ist fast vorbei. Ich habe ein Zugticket für die Rückfahrt.“, erklärte ich mich. Er stieg von der Leiter.
„Wirst du wiederkommen?“ „Du lässt mir sowieso keine andere Wahl, nicht wahr?“ „Nein.“ Oh ja, dieser Mann wusste genau was er wollte und dafür setzte er alles ein, was er konnte.
In der Nacht hielt er mich so fest, dass ich mich kaum rühren konnte. Am Morgen stand er mit gepacktem Rucksack am Auto. „Ich fahre dich nach Oberstdorf.“, freute er sich über seinen cleveren Plan und schnappte meinen Koffer. Er befürchtete, dass ich nicht wiederkäme. „Ist das dein Ernst? Thomas, ich muss einige Dinge regeln bevor ich zu dir ziehen kann. Auf der Arbeit habe ich eine Kündigungsfrist, meinen Haushalt muss ich auflösen und das Haus verkaufen … ich muss es meinen Eltern beichten. Es geht nicht heute hin und morgen zurück. Hast du so viel Zeit?“ „Ich habe alles für meine Arbeit dabei.“ Er klopfte grinsend auf seinen großen Rucksack.
Er schob mich ins Auto, jede Diskussion wäre nutzlos. Auf der Fahrt wurde mir erschreckend bewusst, was alles zu tun war. Ich schrieb eine Liste. Wir diskutierten darüber, auch was mit dem Ertrag aus dem Haus passieren sollte. Ich wollte es in verschiedene Aktien anlegen, als Notgroschen. Thomas vertraut den Banken nicht und wollte es mir ausreden. Ich setzte mich auch damit durch, dass Katze Balu mit auf Kastelbell leben wird. Eine weitere Bedingung war, dass ich mir im Ort zumindest einen Teilzeitjob suchen würde. Er stritt, dass ich damit keine Zeit hätte, ihn auf Reisen zu begleiten. Schlussendlich war zumindest das meine eigene Entscheidung. Je näher wir der Heimat kamen, desto aufgeregte wurde ich, ihm mein zu Hause zu zeigen. Dort würde er mich noch umfassender kennenlernen.
Mit diesem Ziel trat er in mein Haus ein, studierte alles ausgiebig: die Zimmer, die Einrichtung, die Vitrineninhalte, Urlaubsmitbringsel, Bücher, Schallplatten, Musikkassetten, die Wandbilder, den gepflegten Garten mit einem Blick aus den geputzten, spitzenbehangenen Fenstern. Im Vergleich zu Kastelbell war das hier das reinste Puppenhäuschen.

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