Unerwartete Begegnung ...

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Hinter jeder Ecke, jedem Anstieg wurde die Landschaft überwältigender. Die hohen schneebedeckten Gipfel des Himalaya wurden sichtbar. Ein breitgetretener, unebener Pfad führte höher hinauf. Ich knipste mit meiner Kamera einen Foto-Film nach dem anderen voll. Doch diese Schönheit war nicht einzufangen.
Ich erreichte die nächste Siedlung, suchte mir einen Platz für die Nacht. Ebenso vergingen die nächsten Tage. Ich ging, grübelte und staunte. Meine Seele fand zur Ruhe, hier draußen in der sauberen Luft, der großen Weite. Als die Vergangenheit verarbeitet war, sann ich über die Zukunft nach. Würde es weitergehen, wie zuvor? Konnte ich einfach zurückkehren und weitermachen? Ich mochte mein bisheriges Leben. Ich war finanziell durchschnittlich gut versorgt, hatte Zeit für die Dinge, die mir lieb waren. Es gab nichts zu befürchten, nichts auszustehen. Doch ich sah keinen rechten Sinn darin, in der Büroarbeit und dem nutzlosen Spazieren in den Bergen. Wäre ich damit noch glücklich? Ich hatte das Gefühl, mehr geben zu müssen. Mein Leben bisher war zu einfach. Ich wollte etwas leisten, Gutes tun, einen Sinn stiften. Sollte ich mich zum Bergretter ausbilden lassen? Wäre ich fähig dazu? Könnte ich lehren oder ein Buch schreiben? Sollte ich mich ehrenamtlich engagieren? Oder ist das heuchlerischer Eifer? Würde ich mich überarbeiten und unglücklich werden? Es lag noch ein ganzes Leben vor mir, das es zu gestalten galt.
Die Luft wurde dünner, die Schritte langsamer und schwerer. Gelegentlich musste ich innehalten und nach Luft ringen. Gewaltige kahle Felsen ragten in die Höhe. Das Grün hatte ich hinter mir gelassen.
In den letzten Unterkünften und Siedlungen wurde die Distanz zur Zivilisation immer spürbarer. Mehr Genuss als einen einfachen Schlafplatz und etwas zum Essen gab es hier oben nicht mehr, verständlicher Weise. Das Leben war auf das Notwendigste reduziert. Mit allem Geld der Welt könnte man sich in dieser Ferne keine Bequemlichkeit erkaufen. Alles was man bedurfte, musste erarbeitet werden. Mich beeindruckte das einfachste Leben der Einheimischen. Die Sherpas waren wahrhaftige Überlebenskünstler. Trotz der Beschwerlichkeit und jeglichen Entbehrungen blieben sie in dieser Gegend und schienen stets zufrieden und frohgemutes. Nach den anspruchsvollen Wandertagen träumte ich als verwöhnte Europäerin von den warmen Duschen bergabwärts.
Je leerer und schroffer die Gegend wurde, desto mehr schweiften meine Gedanken zu Thomas. Was er wohl tat? Wo er nun war? Ging es ihm gut? Hatte er seine Expedition am Lohtse fortgesetzt? Hätte mir das Team dann nicht auf dem Weg begegnen müssen? Gingen wir aneinander vorbei?

Nach einer schlaflosen Nacht ging ich noch in der Dunkelheit, lediglich im schwachen Schein einer Stirnlampe, auf die Spitze des Kala Patthar. Ein prachtvolles Bild des majestätischen Mount Everest in der rötlich aufgehenden Sonne wuchs heran, nebendran der Lohtse. Irgendwo dort, zwischen den gewaltigen, eisigen Felsen konnte ich Thomas vermuten.
Hier hatte ich mein Ziel erreicht. Vor mir war er, der höchste Berg der Erde. Der prachtvolle Gebirgszug trieb mir die Freudentränen in ergriffener Bewunderung dieser reinen Schönheit in die Augen. Ich erkannte, wie klein der Mensch neben diesen Giganten war und wie unbedeutend für die Natur. Die Natur würde immer gewinnen.
Ich hätte ewig hier sitzen können. Ich hätte nicht bemerkt, wie ich erfriere, im Angesicht dieser puren Schönheit. Starker Wind wehte mich beinahe hinab. Ich wäre wohl gepurzelt bis ins Everest Base Camp dort hinten in sichtbarer Entfernung.
Irgendwann kamen zwei andere einsame Wanderer heraufgeschnieft. Langsam bewegte ich meine steifen Glieder abwärts. Meinen Blick konnte ich kaum von den Füßen lösen, bei dem losen Geröll unter ihnen. Nur ein blasser Pfad führte mich. Kaum zu glauben, wie sehr mir die sauerstoffarme Luft zusetzte. Auf über fünftausend Metern über dem Meer unterwegs zu sein, war etwas vollkommen anderes als auf zweitausend oder dreitausend Metern in den heimischen Alpen. Kaum auszumalen wie es dort oben war, auf den eisigen Gipfeln der Achttausender.
Irgendwann erreichte ich einen aufgestapelten Steinhaufen. Bunte nepalesische Gebetsfahnen umwehten ihn im wilden Wind. Mit roter Farbe war auf einen der größeren Steine geschrieben: Everest Base Camp. Geschafft. Hier endete mein Weg, ich hatte den Umkehrpunkt erreicht. Ich lies mich mit knackenden Kniegelenken zu Boden sinken, lag halb auf meinem Rucksack, die Beine weit von mir gestreckt. Am Ende.
Der Wind pfiff mir um die Ohren, klang fast nach meinem Namen. "Emilia!" Nein, das war nicht der Wind! Wer schrie denn da? Ich sah mich verwirrt um, keiner da. Ich fang wohl an verrückt zu werden! "Emilia! Ich glaub es nicht!" Ja, wer rief da wohl? Ich beugte mich zur Seite, um an dem Steinhaufen vorbei zu sehen. "Da bist du ja!" Schnaufend stolzierte Thomas auf mich zu, nun ja stolperte eher über das unwegsame Geröll. Ging eilig direkt querfeldein, anstatt den Pfad entlang. Seine Mähne erkannte ich von weitem, wenn auch nicht gleich seine erstickte, ferne Stimme. Perplex blieb ich mit vor Erstaunen offenem Mund sitzen. Mein Herz setzte einen Schlag in seinem Galopp aus. Da stand er vor mir in voller Pracht. Mit zu viel Schwung hob er mich samt Fünfzehn-Kilo-Rucksack hoch in seine Arme. Auch sein Atem raste in der Höhenluft. Jede Anstrengung schien von mir abzufallen. Ich zog mich eng an seine Brust. Er war hier! Es ging ihm gut.
Vorsichtig lockerte er die Umarmung nur um stürmisch meine Lippen zu küssen. Er unterbrach sich kurz. "Du warst einfach verschwunden!" Nun löste ich mich, "Es tut mir so leid, Thomas." Doch er unterbrach meine Entschuldigung mit sanften, flüchtigen Küssen. Ich murmelte hinein "Ich konnte es nicht ertragen, diese Bedrängnis dort in Lukla. Ich musste weg von diesem absurden Überfall." "Das verstehe ich." Er öffnete die Gurte meines schweren Rucksackes, streifte mir die Träger von den Schultern und schwang sich das Gepäck selbst auf den Rücken. Ich ließ es schweigend geschehen, überließ mich ganz ihm. Er ließ mich nicht mehr los. Er hielt mich fest an seiner Seite, so dass das Gehen eher gehindert, statt gestützt wurde. Thomas führte mich wortlos in sein Expeditionscamp, abseits des größeren Everest Base Camps. Ich verlor mich in seiner Anwesenheit. An der Kochstelle wurde ich ganz selbstverständlich mit Essen und Tee versorgt. Niemand stellte Fragen, als hätten sie mich erwartet. Hat er auf mich gewartet? Das Treiben ging ganz ungestört von meiner Ankunft weiter. Es wurden die nächsten Schritte des morgigen Tages besprochen. Gestern seien alle von Camp 2 zurückgekommen. Nach einem Regenerationstag hier unten würden sie morgen versuchen das Camp 3 zu errichten.
Thomas hatte hier das sagen. Koordinierte alles ganz genau, damit jeder wusste, was zu tun sei. Seine ernsten Anweisungen machten mir Sorgen. Allen voran die Aussage, wenn nach drei Tagen ab dem Gipfelvorstoß keine Meldung käme, dann sollten sie unten abbrechen, denn dann seien sie aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu finden. Es brächte auch nichts, jemanden zur Suche hinauf zu schicken. Man sprach unterschiedliche Szenarien und die entsprechenden Reaktionen darauf durch. Die Wettervorhersagen waren nicht ideal für das Vorhaben der Expedition. Mich faszinierten die Dynamik des Teams und der bewusste Umgang mit den unzähligen Gefahren. Mir fiel ebenfalls auf, dass jener unangenehme Kerl, der sich in Lukla so prächtig aufspielte, hier nun ganz kleinlaut und zurückhaltend war. Er war einer derer, die im Camp verbleiben würden.
Erst am frühen Abend im Zelt wechselten wir die nächsten Worte miteinander. "Ich habe nach dir gesucht." murmelte Thomas beim ausziehen der dicken Wanderschuhe am Zelteingang. "Die ganze Zeit hatte ich Ausschau nach dir gehalten. Und dann habe ich dich vorhin am Kala Patthar entdeckt." "Es tut mir leid ohne Verabschiedung gegangen zu sein. Ich stand vollkommen neben mir." "Du hast mir nicht einmal deine Adresse hinterlassen, damit ich dir schreiben könnte.", er klang entsetzlich traurig. Eingehüllt in seinen Schlafsack saß er in der Ecke des Zeltes, blickte nur auf seine kalten Hände, die Arme eng um die Knie geschlungen. Ich hatte ihn ungewollt verletzt. Das brach mir das Herz. Ich kniete mich dicht vor ihn. "Das habe ich erst bemerkt, als es zu spät war. Ich bin einfach losgegangen, fast davongerannt. Ich kam erst beim Laufen wieder zu Sinnen. Thomas, ich kann gar nicht sagen, wie schrecklich leid es mir tut." Eine Träne purzelte hinab. Ich hatte nicht erwartet, dass es ihm so viel bedeutete. "Nach einer Weile hatte ich mir eingeredet, dass es so besser sei. Ich nahm an, du würdest dich wieder auf deine Arbeit konzentrieren, mich dabei schnell vergessen." "Dich vergessen?" nun sah er mich mit ernsten, glänzenden blauen Augen an. "Ich bin nicht herzlos, Emilia." "Nein, ganz sicher nicht. Aber ich hatte mir deine Zuneigung ausgeredet." War er böse auf mich oder froh, dass wir nun zusammen waren? Ich konnte sein Gemüt nicht so recht deuten. Wir blickten uns stumm an. Was war das nur? Was sollte das noch werden? Ich strich mit den Fingern durch sein wildes Haar, beugte mich zu ihm für einen Kuss. Ganz sanft, mit all meinem Gefühl. Ich wollte alles wieder gut machen, jeden Schmerz aus ihm löschen. Seine Erwiderung dürstete nach meinen Lippen. Er ließ sich vollkommen fallen, die Ängste vor dem kommenden Abenteuer wurden spürbar. Es war, als würde er die notwenige Kraft, den erforderlichen Mut aus mir schöpfen. Er saugte alle Zuneigung in sich auf, als wäre es das letzte Mal.
Ich spürte seine glühende Haut an meiner, dicht ineinander verschlungen im engen Schlafsack. Wir trösteten einander, die Gedanken verscheuchend, der Liebe des anderen nicht würdig zu sein. Ich liebte ihn mit meiner ganzen Seele. An ihm würde ich eines Tages zerbrechen.
Frühmorgens wurden wir geweckt. Es sollte losgehen. Doch wir konnten uns nicht voneinander lösen. "Bleibst du bei mir?" Nach einem Moment schmerzlichen Schweigens, traurig ihn erneut enttäuschen zu müssen, flüsterte ich leise: "Ich kann nicht." Diese Antwort hatte er erwartet. Er gab mir einen langen, verzehrenden Kuss auf die Lippen. Sog meinen Geruch bei einem festen Kuss auf die Stirn in sich auf.
"Ich muss wieder zur Arbeit. Ich werde bereits länger abwesend gewesen sein, als mir genehmigt wurde. Das hier ist nur mein Urlaub.", versuchte ich ihm zu erklären, dass mein Leben ein vollkommen anderes ist, als seines. "Das weiß ich doch." Wir zogen uns an, er machte sich für den Aufbruch bereit, langsam und schwerfällig als wollte er nicht gehen.
"Wirst du mir schreiben, wenn du zurück bist?" Ich hielt ihm eine zusammengefaltete Seite aus meinem Notizbuch entgegen. Lächelnd steckte er den Schnipsel mit meiner Adresse in die Innentasche seiner Jacke. Ich hatte ihn besänftigt. Sein mürrisches Gesicht war weicher geworden. "Bitte gib Acht auf dich!", flehte ich ihn an. Ich würde daheim tausend Tode in Sorge um ihn sterben, bis er sich meldet. "Immer!", versprach er mir. Ein letzter Kuss voller Leidenschaft und dann stiefelte er davon. Mein Herz riss er mit sich. Würde ich ihn wiedersehen?
Eine Weile blickte ich ihm nach, bis sein winziger Punkt in der Ferne verschwand. Einer der Lager-Hüter tätschelte mir beruhigend die Schulter. Im Camp ging schließlich jeder der wenigen Zurückgebliebenen seiner Arbeit nach. Ich fühlte mich fehl am Platz, wusste nichts mit mir anzufangen. Also packte ich, verabschiedete mich flüchtig und begab mich auf den Rückweg.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt