Fremde Heimat

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In wenigen Tagen gelangte ich nach Namche Bazar zurück, sammelte dort Mut für den baldigen schauderhaften Flug. Tags darauf ging ich nach Luka und erkundigte mich nach dem nächstmöglichen Rückflug. Diesen überlebte ich in größter Angst, ich wagte kaum aus dem Fenster zu blicken. Die furchtbaren Erinnerungen krochen zurück in meine Gedanken.
In Kathmandu holte ich mein aufbewahrtes Gepäck und reiste schnellstens zurück nach Deutschland, in einem großen, robusten Passagierflugzeug, ausgestattet mit jeglichen Sicherheitsvorkehrungen. Das Wetter war gut, sonst wäre ich nicht fähig gewesen, in eines der Flugzeuge zu steigen. Diese Furcht würde mich nun mein Leben lang begleiten.

Der Zug von München nach Oberstdorf glitt durch die grüne Landschaft. Mein Blick haftete an den Bergen, sie kamen näher. Zu Hause.
Die frische Luft der frühen Maitage begrüßte mich. Es duftete nach Frühlingswiesen. Ich schleppte Sack und Pack durch den Ort. Das Klappern des Schlüssels im Schloss weckte meine Katze, die mich mauzend empfing. Ich schnappte sie mir, knuddelte sie, atmete ihren vertrauten Duft nach zu Hause ein. Schnurrend fraß sie mir treuen Gemüts ihre liebsten Leckerlies aus der Hand, während ich die Telefonnummer meiner Eltern auf der Wählscheibe drehte. Meine Mutter brach in Tränen aus, als ich mich meldete und wollte gleich zu mir herüberkommen. Der Vati übernahm das Telefon, während sie ein Korb mit Speisen packte. Wenig später läuteten sie an der Tür. Mein Rucksack lag traurig im Flur, der Koffer stand ausgedient in der Ecke. Ich hatte noch nichts getan, außer Katze Balu zu streicheln und zu verwöhnen, bis meine Eltern in der Tür standen. Sie zerquetschten mich beinahe in ihrer herzlichen Umarmung. Ich war froh sie zu sehen. Als wir uns auf dem Sofa niederließen, sprudelte es förmlich aus mir heraus. Während Vati in der Küche Kaffee kochte, berichtete ich Mutti auch fast alles über Thomas. Sie hörten mir still zu, bis mein Redefluss versiegte und ich erschöpft in mich zusammen rutschte. Nach dem Verspeisen der mitgebrachten Brotzeit, schlief ich auf dem Sofa ein, bevor meine Eltern heimgingen.
Den Sonntag verbrachte ich mit Aufräumen und Wäschewaschen, umsorgte mein Kätzchen und brach weinend beim Lesen über meinem Tagebuch zusammen. Eine unfassbare Reise war das, die ich nie wieder in dieser Art erleben wollte.
Am Abend, im frisch bezogenen, kuschlig weichen Bettchen waren meine Gedanken ganz bei Thomas. Ging es ihm gut? Steckte er noch in Eiseskälte im Berg? War er wohlbehalten auf dem Heimweg? Er fehlte mir.
Am Montag ging ich wie ein anderer Mensch zur Arbeit in die Stadtverwaltung. Geschniegelt und gebügelt saß ich in meinem Büro, mit Rock und Bluse, hohen Absatzschuhen, an die ich mich erst wieder gewöhnen musste. Vor mir lag ein Haufen aufgeschobener Sachverhalte, daneben unzählige Blumensträußen und Willkommenskarten von Kollegen, die ich teilweise nicht einmal kannte. Auch eine Karte von Personalchef und Oberbürgermeister war dabei, ich solle mir so viel Zeit nehmen, wie ich bräuchte und mir keine Sorgen machen. Glückwunsch Emilia, der Alltag hat dich bald wieder verschlungen! Alle schienen die Zeitungsberichte über den Unfall gelesen zu haben. Mich grüßten und mir gratulierte fremde Leute, im Verwaltungsflur und auf der Straße. Ich wurde zu Kaffeekränzchen und Dinner Partys von Menschen eingeladen, mit denen ich früher noch nie ein Wort gewechselt hatte. Selbst beim Einkauf am Nachmittag sprach man mich an, die Kassiererin begutachtete mich neugierig. Sie schien enttäuscht, entsprach mein Anblick wohl nicht ihren Vorstellungen eins Opfers des Flugzeugabsturzes im Himalaya. Wenn sie wüsste!
Oberstdorf war geschrumpft für mich, jeder meinte mich zu kennen.

Eine befreundete Kollegin würde am Abend zu mir kommen und ihre gesammelten Zeitungsberichte mitbringen. Wollte ich tatsächlich wissen, was die Presse für wilde Geschichten verbreitete?
Gemeinsam mit Rosalinde öffnete ich einen Wein. Sie verteilte eine ganze Taschenladung Zeitungen und Magazine auf dem flauschigen Wohnzimmerteppich. Deutschsprachige Berichte natürlich, aber auch englische und sogar eine italienische waren darunter. „Du meine Güte, Rosa! Hast du tatsächlich jede Zeitschrift gekauft?“ „Selbstverständlich! Jede die ich auftreiben konnte. Woher sonst hätte ich erfahren, ob du wohlauf bist, Liebes.“ Mit klirrenden Gläsern stießen wir an, genehmigten uns einen Schluck und begannen uns gegenseitig die Artikel vorzulesen. Kaum einer beschrieb annähernd die Wahrheit. Das meiste war übertrieben, als wäre die Wahrheit nicht schlimm genug gewesen. Schlagzeile jagte Schlagzeile, sich gegenseitig übertrumpfend. Nicht geschrieben um zu informieren, sondern um höchste Verkaufszahlen zu erzielen. Der eine schrieb die Lüge des anderen ab. Nur wenige der Interviews von Thomas waren bereits gedruckt. Ich las sie mit größter Aufmerksamkeit. In liebenswürdiger Zurückhaltung seiner Rolle als unser Retter, stellte er die Geschehnisse richtig.
Auch ein Interview von Aiden entdeckte ich, vieles war dazu gesponnen, ausgeschmückt, umformuliert. Ich war ja daneben gesessen. Ich beschrieb Rosalinde mit einem Kloß im Hals die tatsächlichen Geschehnisse. Nach ein paar Gläsern Wein wurde es leichter. Über viele Artikel konnte ich nur schimpfen, war teilweise fassungslos, wie so etwas geschrieben werden durfte. Dann entdeckte ich mein kurzes Interview. „Unglücksüberlebende erleidet Nervenzusammenbruch!“, lautete die reißerische Schlagzeile. Meine Worte waren zwar richtig abgedruckt, doch bekamen sie einen ganz anderen Klang, da man mich als geistesgestört darstellte. Unglaublich! Wir waren die Marionetten der Presse.
„Und, was ist dieser Thomas Meisner für ein Mensch?“, fragte Rosalinde neugierig. Ahnte sie etwas?
„Ein guter … es gibt wohl kaum einen besseren. Er ist ruhig und überlegt, hat immer sein Ziel vor Augen. Er hat uns gerettet. Ohne ihn wäre ich schon in der ersten Nacht unter eine Lawine geraten. Er hat sich in Gefahr gebracht, um Mike vor sich selbst zu schützen. Mit einer cleveren Materialaufteilung hat er Aiden vor dem Erfrieren bewahrt … Thomas ist unfassbar charismatisch. Wenn er spricht hört ihm jeder gespannt zu.“
„Du bist beeindruckt von dem Mann!“, stellte Rosalinde überrascht fest. Das kam bei mir nicht sehr oft vor. Nun, eigentlich nie. „Wie könnte ich es nicht sein? Er wird all den Geschichten in seinen Büchern gerecht. Er ist authentisch, ehrlich und ganz er selbst.“ Die meisten Menschen waren mir unsympathisch und vor allem die Männer entweder bevormundend oder unreif. Damit konnte ich nichts anfangen. Thomas war ganz anders, vielleicht sogar mehr Berg als Mensch. Standhaft, frei und unbeugsam.

In dieser Nacht hatte ich die schlimmsten Albträume. Ich sorgte mich um ihn. Wann werde ich etwas von ihm hören? Würde er mir tatsächlich schreiben? Oder war ich inzwischen aus den Augen, aus dem Sinn?
Die Tage darauf wurden immer merkwürdiger. Es war seltsam, wie sich die Menschen mir gegenüber verhielten. Sogar der Verkäufer im Fotogeschäft, wo ich meine Reisefotografien entwickeln ließ, sah mich anders an, als all die Jahre zuvor. Nun, wenn sie alle miteinander den Presseberichten Glauben schenkten, dann war ich abgrundtief verzweifelt und vollkommen verstört. Oh, was sollte nur mein Arbeitgeber denken?
Ich verkroch mich daheim mit meinen Fotos. Sie waren großartig geworden, ich hätte beinahe jedes als Poster drucken und an die Wand hängen können. Mutti besuchte mich wieder, um nach dem Rechten zu sehen. Sie bestaunte die Bilder und verstand, was mir so sehr an der Landschaft gefiel. Auch die Fotografien von Thomas verstand sie recht, die Bilder schmeichelten ihm sehr. Mein liebstes war eine nahe Porträtaufnahme. Sein Blick zeichnete konzentriert seine Aufstiegslinie am Lohtse, in seinen glänzenden Augen spiegelte sich die Umgebung. Die wilden Locken fielen ihm ins Gesicht, im Hintergrund die hohen Berge.
Eigentlich, in gewisser Weise, war es ein Glück für mich, was geschehen war. Eine Erfahrung, die man nur ein einziges Mal im Leben macht, hoffentlich. Es war eine Möglichkeit mich selbst und meine Grenzen kennenzulernen, mein Leben zu rekapitulieren. Ich träumte mich zu der kurzen überschwänglich fröhlichen Zeit auf dieser fernen, unberührten Wiese mit dem plätschernden Bach und kleinen, blühenden Wildblumen. Damals fühlte ich mich nach dem Unglück und dem Kampf hinaus aus der lebensfeindlichen Gefahrenzone wie neu geboren. Nun könnte ein neues Leben beginnen. Wie würde ich es gestalten?

Am nächsten Morgen erschrak ich bis ins Mark, als beim Türöffnen ein Fernsehteam auf mich einstürmte. Ich schlug die Haustür scheppernd zu und rief ausweglos bei Rosalinde an. Sie hatte ein Auto und eskortierte mich von der Haustür zu meiner Bürotür. Sie war außer sich über die Belagerung der Presse, schimpfte die Reporter voll. Auch zurück brachte sie mich am Abend wieder.
Im Briefkasten war noch kein Brief von ihm. Die Interviewanfragen wollte ich gar nicht erst herausnehmen.
Ein Schreiben von Aiden aus den USA erfreute mich. Er war gut nach Hause gekommen. Bei ihm hatte sich ebenfalls einiges geändert. Er würde nun richtig als Lehrer durchstarten. Es ging ihm gut. Er erkundigte sich auch, ob ich Thomas noch einmal getroffen hätte. Dieser sei völlig panisch von Lukla aufgebrochen, nachdem Aiden ihm von meinem übereilten Aufbruch erzählt hatte. Er sei mir regelrecht nachgejagt.
Ich antwortete ihm mit Berichten aus meiner Heimat, schrieb von der seelenbefreienden Reise auf dem EBC-Treck und auch, dass ich Thomas am Lothse Camp getroffen hatte.

Mein zu Hause ist mir fremd geworden.
Nur mein Kätzchen blickte mich an, als wäre nichts geschehen.
Bis zum Wochenende war ich mit meinen Nerven am Ende. Ich flüchtete in die Berge, verbrachte zwei Nächte unerkannt in gemütlichen Almen. Dort oben war alles beim Alten, friedlich.
Es wurde wieder Montag, Dienstag und dann Mittwoch. So manchen Abend legte ich eine Schallplatte auf und weinte mir die Augen aus. Damals, in einem anderen Leben, war ich zufrieden. Nun nicht mehr.
Wie lange würde es wohl dauern, bis die nächste Sensation die Presse in Aufruhr stürzte. Lang würde es nicht dauern. Die Medien sind kurzlebig.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt