Stürmischer Aufbruch ...

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„Woher kennen Sie meinen Namen?“ fragte ich verwundert, da ich bisher nicht persönlich angesprochen oder überhaupt nach meinem Namen gefragt wurde. Ich blinzelte sie schüchtern an.
„Nun, die Katastrophe wurde direkt an die deutsche Botschaft in Kathmandu und von dort nach Berlin übermittelt. Die Fluggesellschaft hatte ihre Daten.“ Und dann ging alles an die Presse. Kopfschüttelnd stand ich von der Sitzbank am Fenster auf. „Frau Siegfried, möchten Sie nicht ihrer Familie eine Botschaft übermitteln? Wie geht es ihnen?“ Ich fiel zurück auf die Bank. Meine Eltern! Sie mussten das alles aus den Zeitungen erfahren. Mutti starb sicher tausend Tode vor Sorge um mich. Als ich nicht antwortete redete die Pressesprecherin weiter auf mich ein. Sie hatte mich so verdutzt, sie hatte mich am Haken. „Sagen Sie, wie fühlen Sie sich nach diesem traumatischen Erlebnis? Sind Sie erleichtert nach Ihrer Rettung? Reisen Sie direkt in die Heimat?“ Mit großen Augen blickte ich sie an. „Es kann sich niemand ausmalen, wie es uns geht. Wir haben unvorstellbares erlebt. Und kaum sind wir wieder in der Zivilisation, werden wir überfallen von unzähligen, rücksichtslosen Sensationsjägern. Können Sie sich denn nicht vorstellen, dass wir Zeit für uns brauchen, um das alles wenigstens annähernd verarbeiten zu können?“ Mit diesen Worten verließ ich endgültig den Speiseraum. Ich musste hier raus. Weit weg. Meine Gedanken waren aufgewühlt, bei meinen Eltern, die in größter Sorge waren, wegen diesem Unglück und den denkbar abscheulichen Schlagzeilen in der Presse. Jene Bilder schossen wieder in mein Gedächtnis, die blutüberströmte schreiend weinende Frau, begraben unter einer Lawine. Die Flugzeugtrümmer. Die drei Menschen, wie sie in Panik ins Nichts sprangen. Tränen rannen ungehindert mein Gesicht hinab, hinterließen eine salzige, brennende Spur bis über meinen Hals. So verloren in den Erinnerungen packte ich meinen Rucksack, lief los und atmete tief in die Lungen, als ich aus dem Ort hinaus trat in die grüne Umgebung. Ich lief und lief, gab mich haltlos meinen Gedanken hin. Gelegentlich lies mich mein erbärmliches Schluchzen zusammen gekauert innehalten. Träger und Viehhirten, die mich passierten, legten manches Mal eine Hand auf meine Schulter, wohl besorgt, ob ich wohlauf war. Ich winkte beschwichtigend ab und rappelte mich bald wieder auf. Im Gehen klärten sich meine Gedanken. Stufe um Stufe nach Namche Bazar hinauf, rekapitulierte ich die Geschehnisse. Ich durchlebte alles noch einmal. Mein Geist wurde ruhiger. Mein Blick schweifte durch die atemberaubende Landschaft. Ich würde meinen Weg gehen, die geplante Reise zum Base Camp des Mount Everests umsetzen, bis ich wieder bei klarem Verstand bin. Das Wandern würde meine Therapie.
Der Weg über Wurzelwerk und Steine war gesäumt von blühenden Pflanzen. Unglaublich bis in welche Höhen es in diesem Land grünte. Flüsse und Wasserfälle begleiteten den Marsch.
An einer gewaltigen Hängebrücke blieb ich stocksteif stehen. An mir trabte eine Yakherde vorbei. Ich beobachtete das nervenaufreibende Schwanken der Brücke unter dem trabenden Gewicht der Tiere. Es schauderte mir darüber zu gehen, über eine schier bodenlose Schlucht. Sehr vertauenswürdig sah die Hängebrücke aus Brettern und zusammengeknoteten Seilen nicht aus. Plötzlich zupfelte ein kleines Mädchen der Sherpa an meiner Jacke. Mit strahlendem Lächeln streckte sie eine Hand nach meiner aus. Ihr Vater, vorn zwischen den Tieren, sah sich nach ihr um und winkte sie nach. Da schnappte sie meine Hand und zog mich mit sich. Sie hatte meine Nervosität gespürt und leitete mich nun aufmuntern über die gefährlich wankenden Planken. Auf der anderen Seite angekommen klatschte sie vergnügt in die Hände. „Namasté!“ bedankte ich mich herzlich mit einer kleinen Verbeugung. „Namasté! Namasté!“ lachte sie und hopste unbeirrt ihrer Familie nach. Weich wie Butter war mein Herz. Dieses zauberhafte Mädchen, mit ihrem vertrauensvollem Leuchten in den Augen, hat mich meinen inneren Schmerz vergessen lassen.
Weiter ging es über Stock und Stein, bis zum farbig bunten Eingangsportal vom Ort Namche Bazar. Gebetsfahnen flatternden im Wind, begrünte Berge umrahmten die Siedlung. Aus den Teehäusern wehten köstliche Düfte. Händler vertrieben ihre Waren auf den Straßen. Wo kamen nur all die Menschen auf einmal her? Ich sah mich nach einem netten Teehaus mit sonniger Terrasse um. Als ich fündig wurde, setzte ich mich in die Sonne, absorbierte die belebende Wärme und bewegte mich erst in der kühlen Dunkelheit wieder. Meine Beine waren schwer, als hingen Felsbrocken daran. Inzwischen hatte ich mich gestärkt mit Essen und köstlichem Tee. Nun suchte ich mein Zimmer. Überraschenderweise konnte ich noch einmal eine warme Dusche nehmen, ein undenkbarer Luxus in dieser Höhe, fernab jeglicher Straßen und Infrastruktur. Beim Zubettgehen staunte ich über die Aussicht auf die nächtlichen Schatten der Berge. Welche Pracht es bei Tageslicht sein musste!
Hustend erwachte ich aus einem festen, traumlosen, komatösen Schlaf. Es war schon beinahe Mittag. Ich hatte ganze sechzehn Stunden durchgeschlafen. Auf der Terrasse beim Frühstück beschloss ich, an diesem Tag nicht weiter zu gehen. Ich wollte die Gegend genießen, prachtvoll wie sie war. Ich würde einige Einkäufe machen können, ein wenig Proviant aufstocken. Wer weiß schon, wo ich in den nächsten Tagen landen würde? Doch bevor ich eine Foto-Tour durch die Stadt machte, schrieb ich einen Brief an meine Eltern.

Liebe Mutti, lieber Vati,
bitte seid beruhigt, es geht mir gut. Gesundheitlich fehlt mir nichts, ich wurde ärztlich untersucht. Doch ich brauche etwas Zeit für mich. In Lukla wurden wir wie von Aasgeiern überfallen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was die Presse so schreibt. Bald bin ich zurück und freue mich euch wiederzusehen, zunächst muss ich aber meine Reise zu Ende bringen. Es tut mir gut.
Herzliche Grüße, eure Emilia.

Ob der Brief noch vor meiner Rückreise eintreffen würde? Die Post von hier oben müsste wohl ewig dauern.
Ich schrieb die gestern geordneten Erlebnisse und Gedanken in meinem Tagebuch nieder, hinaus aus meinem Kopf. Stundenlang saß ich über das Büchlein gebeugt. Die freundliche Wirtin brachte mir einen Tee nach dem anderen. Nach dem Schreiben ging es mir besser. Es war schon beinahe Abend als ich durch die Straßen streifte. Kinder spielten in den Gassen zwischen wilden Hunden und Katzen, ältere Frauen saßen vor den Häusern und widmeten sich Handarbeiten. Entlang der Straßen waren Geschäfte, Stände, Lager auf Teppichen am Boden. Eine andere Welt. Es wirkte hier, wie in einer anderen Zeit. Die Menschen waren glücklicher, freundlicher, einander näher.
Eine erholsame Nacht rüstete mich für die nächste Wanderung.

Heute waren meine Gedanken ganz bei Thomas. Ich grübelte darüber nach, was das zwischen uns war. Wie ehrlich waren unsere Empfindungen? Sind sie nur der Situation entwachsen? Er hat mein Herz tief berührt. Ich sehnte mich nach seiner Anwesenheit, hier und jetzt. Ich erdachte mir Gespräche mit ihm, in seiner besonnenen, überlegten Weisheit, seiner eleganten, ausschweifenden Redensart. Er war mir der liebste Gesprächspartner geworden. Allerdings würde ich ihn nicht wiedersehen, das wurde mir erst jetzt traurig bewusst. Wir hatten keine Kontaktdaten ausgetauscht. Ja, ich hatte mich bei meinem überstürzten Aufbruch nicht einmal von ihm verabschiedet. Das bereute ich nun schmerzlich. Andererseits hatte ich uns damit ein klares Ende gesetzt. Wo sollte das denn hinführen? Unsere Leben konnten kaum weiter voneinander entfernt sein. Mein bürgerliches, beschauliches Dasein als Verwaltungsangestellte in einer netten, kleinen bayerischen Gemeinde. Auf der anderen Seite sein aufregendes, abenteuerliches und öffentliches Expeditionsleben hier draußen in der Wildnis, immer unterwegs. Er zog von einem Projekt zum nächsten, immer fleißig, immer mit allem was er hat, ganz bei der einen Sache. Grenzenlos faszinierend und beeindruckend seine Leistung. Dort war kein Platz für ein Anhängsel. Ich bin keine Abenteurerin. Bin ich doch an diesem hiesigen Erlebnis fast zerbrochen, wäre er nicht gewesen. Ihn von daheim bei seinen Wagnissen zu begleiten, würde mich quälenden Sorgen und Ängsten aussetzen. Dazu würde es nun nicht kommen, gesünder für mich. Mit der Zeit würde sich meine Seele von ihm entfernen. Er würde eine wundervolle Erinnerung. Noch spürte ich seine warmen, sanften Berührungen, ich zerging in ihnen. Seine Stimme im Sinn, seinen Duft nach Seife und Männlichkeit in der Nase, vernebelten mir den Geist. So würde er mir im Gedächtnis bleiben.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt