Von Sinnen ...

23 1 2
                                    

Blinzelnd öffnete ich die Augen. Eisigkalt war die Luft. Darum war ich wohl tief in den Schlafsack hineingerutscht, bis zu den Ohren. Mit dem Gesicht war ich an Thomas gekuschelt, seine Kleidung duftete noch frisch gewaschen. Mein liebster Duft, abgesehen von blühenden Wiesen im Frühling. Die orangene Zeltwand war gesäumt von unserer angefrorenen Atemluft, gelegentlich rieselte es. Das erste Tageslicht erhellte kaum das Zelt. Ein heftiger Wind zerrte am orangenen Stoff, der uns vor der Außenwelt schützte, und blies raschelnden Schnee an die Wände.
Langsam öffneten sich Thomas‘ kleine, blauen Augen unter den buschigen Brauen, in denen sich ebenfalls Eiskristalle festgefroren hatten, wie auch in seinem Bart und der wilden, halblangen Mähne. Sein sanftes Lächeln wärmte mein Herz.
Dumpfes Donnern in der Ferne lies uns plötzlich aufsitzen. Auch unter uns und rings herum knackten Schnee und Eis. Das Sonnenlicht, welches sich müßig über die hohen Bergspitzen kämpfte, erwärmte den neuen, losen Schnee des gestrigen Sturms und wurde vom drückenden Wind zerrüttet. Lawinen brachen los.
„Wir müssen hier verschwinden!“ Wir strampelten uns aus dem Schlafsack. Vorsichtig stupste ich Aiden neben mir an, welcher sofort hellwach war und Mike aus dem Schlaf schüttelte. Eilig packten wir alles zusammen, zogen die klamme Überbekleidung an, zwängten uns in halb gefrorene Wanderstiefel. Wie mühselig und zeitaufwändig hier oben in der Kälte alles war!
Gestern war die gigantische Gesteinsformation, die sich über unserem Lager bis in den Himmel erhob, in den Sturmwolken nicht zu erkennen gewesen. Heute war die Luft klar. Der Wind blies die vereinzelten Nebelschwaden schnell davon. Das goldene Licht des frühen Morgens, tauchte den weißen Schnee in leuchtende Farben. Ein traumhaftschöner Anblick, der mich überwältigend einen Moment in der Eile innehalten lies. Je weiter die Sonne über den Berg strahlte, desto mehr Lawinen lösten sich. Im Wind ließ sich das Zelt kaum vernünftig zusammenlegen. Mike brauchte quälend lang, bis er seinen Krempel beisammen hatte und kam erst im Gehen dazu, umständlich Mütze und Handschuhe überzuziehen und die Jacke zu schließen. Hauptsache in seinem Mund steckte ein Riegel, ohne Frühstück könne er nicht losgehen. Er schien den Ernst der Lage zu verdrängen. Am liebsten hätte ich ihn angeschoben. So trottete er unserer Karavane hinter Thomas durch den peitschenden Schnee her. Eine endlose weiße Weite lag vor uns, erstreckte sich bis zum Horizont. Das kühle, grelle Sonnenlicht strahlte von oben, wurde unten reflektiert vom Schnee und stach uns schmerzend in die Augen wohin wir auch sahen. Ich sorgte mich, Aiden könnte schneeblind werden, hatte er ohne sein Gepäck als einziger keine Sonnenbrille mehr. Das wäre die nächste Katastrophe. Thomas borgte ihm großzügig seine Ersatzbrille, eine eindrucksvolle Spezialanfertigung für seine Abenteuer.
Im Gehen, im vorwärts Schleppen, dröhnte mein Kopf vor höllischem Schmerz, auch der Magen verkrampfte sich. Nahrungsmangel, Ruhemangel oder Anzeichen der Höhenkrankheit? Nun gut, wir stiegen ja ab. Das wird schon werden.
Wir kamen an eine Stelle, von wo wir die Absturzstelle des Flugzeuges sehen müssten, erkennbar an dem Felsvorsprung. Davon war jedoch nichts mehr zu sehen. Eine Lawine hatte alle Überreste unter sich begraben. Erschaudernd realisierten wir, was uns gedroht hätte, wären wir nicht Thomas‘ geübten Instinkten hinauf auf den Bergsattel gefolgt.
Damit blieb er als Leiter unseres Überlebenstrupps unumstritten und führte uns bergab. Mit dem Fernglas suchte er nach möglichst sicheren Abstiegen und Querungen, bis wir an einem steilen Abhang standen. Mike beschwerte sich, doch wenigstens beinhaltete die Packliste für seine „Touristenexpedition“, an welche er sich strikt gehalten hatte, ein Seil. Die Länge genügte gerade so, dass es zum abseilen taugte. Meine und Mikes Kletterfähigkeiten waren zu gering für diese eisige Felswand. Auch Aiden traute seinem Können unter den hiesigen Bedingungen nicht vollends. Nur Thomas war sich seiner Sache sicher. Folglich seilten wir zunächst Mike gemeinsam ab, ihm folgte Aiden, mich konnte Thomas allein halten, welcher schließlich ungesichert herabkletterte.
Mir war es kaum möglich, Halt an der vereisten Fellswand zu finden. Sah ich zu Aiden herunter, der mir ermutigend zu rief, wurde mir schwindlig. Es war mir schrecklich unangenehm, Thomas dort oben mein gesamtes Gewicht zumuten zu müssen. Hatte ich mit den Steigeisen einmal festen Tritt gefunden, rutschten meine Finger in den Handschuhen vom Griff. Ich fühlte mich entsätzlich erbärmlich, obwohl auch die beiden Männer vor mir ohne große Klätterkunst hinab gelassen wurden. Dabei waren aber mehr Personen zur Stelle. Wenn ich zu ruckartig abrutschte, könnte Thomas mich nicht halten und würde wahrscheinlich mit mir abstürzen. Kochendes Blut pochte mir in den Wangen vor Aufregung und Adrenalin. Nach dieser Tortur unten angelangt, fing mich Aiden auf und half mir, das Sicherungsseil abzunehmen. Mein Blick glitt über die ebenmäßige Wand, kaum Vorsprünge, keine Griffe erkennbar. Es fühlte sich unwahrhaftig an, daran soeben hinab gestiegen zu sein. An der obrigen Felskannte kletterte Thomas nun selbstsicher und in eleganten, gleichmäßigen Zügen zu uns anderen. Ich konnte dabei kaum hinsehen, obwohl mich seine fließenden, sicheren Bewegungen faszinierten. Wenn er abstürzte, wir hätten ihm kaum helfen können.
Mike hatte gleich begonnen Vorbereitungen für eine Rast zu treffen, während wir ihm herabfolgten. Wir tranken die Reste des abends zuvor geschmolzenen Schnees und mampften die Snackriegel die Mike und ich mit uns trugen. Als Thomas zu unserer Picknickgesellschaft stieß, merkte ich ihm seinen Unmut an, dass Mike etwas angefangen hatte, was nicht abgesprochen war. Doch nach ein paar überzeugenden Worten nahm er wiederwillig einen Riegel an. Auch er war etwas erschöpft, auch wenn er es nie zugeben würde. Den ganzen Weg vorauszugehen und für uns zu spuren, diese unfähige Gruppe zu leiten, verlangte ihm viel ab. Sonst arbeitete er mit Experten zusammen. Dennoch beschwerte er sich nicht, hielt tapfer durch und ließ uns nicht im Stich.
Trotz der Pause dauerte das Stechen in der Lunge an. Die kalte Luft war noch immer sauerstoffarm und die Anstrengungen groß. Wir stopften unsere Flaschen voller Schnee, steckten sie uns unter die Jacken. Bald würden wir die Schneegrenze unterschreiten. Der Schnee wurde weicher, sülzig matschig. Als wir aufbrechen wollten, vernahm ich, über das Pfeifen des Windes und unser Keuchen hinweg, ein motornes Rattern. Ich nahm zunächst an mich zu irren, es sei sicher mein dröhnender Kopfschmerz. Bei dem Wind würde wohl kaum ein Helikopter starten. Doch dann war er schließlich zu erkennen, keine Einbildung oder Halluzination. Ein kleiner Punkt in der Ferne steuerte auf uns zu. Aiden begann wie ein Verrückter mit neugeschöpfter Energie zu grölen, zu winken und zu springen. Ich tat es ihm überwältigt gleich. Der Punkt hielt weiter auf uns zu. Hatte man uns entdeckt? Adrenalin schoss kribbelnd warm durch meinen Körper, bis in die kalten Fingerspitzen. Wie der Helikopter sich näherte, wusste wir, dass uns das Rettungsteam tatsächlich bemerkt hatte. Glückstrunken, dass dieser Albtraum ein baldiges Ende hatte, hörte ich Thomas‘ Diskussion mit Mike nur im Hintergrund. „Der kann hier nicht landen.“ „Die nehmen uns mit der Seilwinde auf!“ „Es ist zu windig, viel zu gefährlich.“ Als wir die Piloten erkannten, gestikulierten sie mit den Armen, wir sollen weiter hinunter. Thomas vereinbarte die Richtung mit ihnen und gab den Status keine Verletzten, acht Tote weiter. Der Helikopter schaukelte heftig im Wind, was die entfernte Kommunikation erschwerte.
Mike mischte sich ein, sie sollen ihn mitnehmen, die Seilwinde herablassen. Thomas wollte ihn ins Gewissen reden, doch er schien wie von Sinnen. Seine Gestik wurde immer aggressiver, dann schmiss er mit losen Schneebällen nach dem Helikopter, als dieser sich zurückziehen wollte. Aiden und ich versuchte ihn zurückzuhalten und zu beruhigen. Der Kerl war vollkommen außer sich. Schmiss uns heftig um, rücklinks in den Schnee. Es war zum verzweifeln. Schließlich lies das Rettungsteam doch ein Seil herab, trotz starkem Wanken im Wind. Ohne auf unsere Warnungen zu achten, stürzte Mike darauf zu und schnallte sich fest. Eigentlich hatte man uns nur ein Packet mit Equipment herabgelassen: Decken, Proviant, ein Funkgerät. Achtlos riss Mike es vom Haken und schmiss es zur Seite. Schon während des Befestigens riss es ihn von den Füßen, er war nicht richtig gesichert. Das Helikopterteam hatte keine Möglichkeit das Seil vorher wieder heraufzuholen. Aiden und Thomas rannten zu Hilfe. Hielten ihn fest, wollten ihn vom Seil lösen. Er trat, schlug und schrie um sich. Was sollte ich tun? Vollkommen entsetzt sank ich auf die Knie und beobachtete das schreckliche Schauspiel. Der Helikopter war nicht ruhig zu halten, drohte gar abzustürzen. Mike taumelte in der Luft und schmiss die beiden Anderen heftig zu Boden. Was sollte das nur? Er würde uns alle umbringen, samt dem abstürzenden Rettungstrupp. Ausweglos zog der Helikopter nach oben und zugleich auch die Seilwinde. Doch nicht genug. Über uns klatschte Mike brutal an die Felswand. Ich hörte meinen eigenen Entsetzensschrei, wie durch Watte weit entfern. Dann ein zweites Mal, Mike hing bewusstlos am Seil schlaff herab. Im Abflug wurde er allmählich in den Helikopter hinaufgezogen. Neun Tote. Es flimmerte vor meinen Augen, für einen Moment wurde es schwarz.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt