Im Flughafen verschluckte mich sogleich die Masse suchender, wartender, aufgeregter Touristen. Eine große Halle für alle Ankömmlinge, Abreisenden, Gepäckaufgaben und Gates … Ein unfassbarer Kontrast zum organisierten Flughafen-Chaos in Deutschland. Und dennoch funktionierte es irgendwie, scheinbar. Zu meinem Glück hatte ich mich nach meiner Anreise in Kathmandu vor wenigen Tagen bereits nach dem Abflug nach Lukla erkundigt. So konnte ich mich in meiner Aufregung etwas beruhigen, da ich wusste, wohin ich gehen muss. Am Check-In-Schalter wurde nicht viel gesprochen. Wahrscheinlich war das Englisch des Flughafenpersonals ähnlich unsicher, wie meines. Ich legte alle Papiere vor, wurde samt Gepäck gewogen und schließlich mit einfacher Handbewegung zu einer Sitzreihe geschickt. Ich ließ meinen Rucksack von meinen Schultern auf einen der Metallsitze gleiten, froh das Gewicht noch einmal los zu sein, und ließ mich auf den Nachbarsitz plumpsen. Eine Wonne der Erleichterung und Entspannung überkam mich. Ich war rechtzeitig angekommen, tatsächlich viel zu zeitig, war zum Flug zugelassen und brauchte nur noch zu warten. Ich lehnte mich auf dem harten, kalten Sitz zurück, schloss für einen Moment die Augen. Der Flughafenlärm durchbohrte meinen Kopf mit einem Schlag und ich riss die Augen wieder auf. Ich starrte auf die Fenster mir gegenüber, in denen ich das wilde Treiben hinter mir beobachten konnte. Es dauerte einen langen Moment, bis ich die Regentropfen am Glas registrierte. Dicke graue Wolken verdunkelten den Himmel, weshalb der Blick durch die Fenster gehemmt wurde und sich eher das erleuchtete Flughafeninnere darin spiegelte. Mit einem Satz stand ich direkt vor dem Glas, studierte die Wetterlage. Ein heftiger Wind wehte. War ich tatsächlich so in mir selbst versunken, dass ich dieses Wetter auf dem Weg zum Flughafen nicht bemerkt hatte? So würde doch kein Flug möglich sein! War das Flughafenpersonal aus diesem Grund derart schweigsam im Vergleich der üblichen nepalesischen Freundlichkeit? Im Spiegelbild der Sitzreihen zählte ich die Wartenden. Elf Passagiere im Wartebereich in Richtung Lukla. Der erste Flug des Tages sollte planmäßig vor dreißig Minuten gestartet sein, zehn Personen je Flug. Der zweite, mein Flug, war in ungefähr dreieinhalb Stunden geplant. Davon würde wohl noch kaum jemand da sein, außer mir. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Der erste Flug konnte nicht gestartet sein. Was nun? Ich ließ meinen Blick durch den Wartebereich wandern. Grimmig waren die Blicke, doch nicht ungewöhnlich nervös. Mein Rucksack wartete hinter mir treu und sorglos auf mich, ich setzte mich beunruhigt wieder daneben. Das Wetter konnte sich in den Berggegenden schnell ändern, das wusste ich. Die Monsunzeit mit Dauerregen ab Juni lag noch in recht sicherer Entfernung. Da der Flug nicht abgesagt wurde, würde es lediglich zu einer Verspätung kommen, hoffentlich. Eine Stunde verging. Ich hing meinen sorgenvollen, aufgeregten Gedanken nach, bis mich ein Gespräch in gewohnter Sprache aus meinen Grübeleien lockte. Eine Gruppe deutschsprachiger Männer ließ sich eine Sitzbank weiter nieder. Ihre lebhafte Unterhaltung war recht gut zu verstehen. Einer der jungen Herren versuchte die anderen zu beruhigen, diese Situation sei nichts Ungewöhnliches für diese Gegend. Schlimmsten Falls würden sie morgen fliegen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz, Thomas Meisner! Der bekannteste, umstrittenste und beeindruckenste Bergsteiger unserer Zeit. Mir kam das Bild seiner Bücher in meinem Regal zu Hause in den Sinn. Schnell drehte ich mich wieder herum, bevor er mein Starren bemerken würde. Allerdings lauschte ich ihrem Gespräch, bestimmt von ähnlichen Sorgen, wie meinen, und doch mit einer professionelleren Betrachtungsweise. Der eine gab die Verzögerung der Expedition bei anhaltender Wetterlage zu bedenken. Ein zweiter wollte die resultierenden Bedingungen am Berg diskutieren. Herr Meisner beteiligte sich nur nüchtern an der Debatte, man könne es nicht ändern und müsse alles vor Ort prüfen. Er schien sich der Natur und ihrer Macht vollkommen zu unterwerfen, unveränderlich wie sie nun einmal war. Diese Ruhe strahlte zu mir besänftigend herüber. Dann würden wir eben morgen fliegen. Doch bis eine tatsächliche Absage des Fluges offiziell erteilt wurde, blieb ich brav auf meinem Warteplatz sitzen, wartete auf die Natur.
Es vergingen weitere zwei Stunden, der Regen ebbte ab. Erste zögerliche Sonnenstrahlen durchbrachen die dichte Wolkendecke. Noch eine Stunde, dann begann das Boarding für Flug 1. Am Check-In-Schalter konnte ich beobachten, wie Neuankömmlinge abgewiesen wurden. Der dritte Flug wurde wohl auf den nächsten Tag verschoben. Einige Touristen versuchten zu diskutieren, aber was sollte das Flughafenpersonal schon ausrichten? Die Dreiergruppe Bergsteiger hinter mir wurde zu weiteren Expeditionsmitgliedern gebeten. Draußen wurde es freundlicher und heller. Ich konnte nur noch schemenhaft im Spiegel der Fenster verfolgen, wie eine hitzige Diskussion entbrannte. In dem Moment war ich recht froh auf mich allein gestellt zu sein, unabhängig von anderen. Über den allgemeinen Lärm hinweg war es nur schwer möglich, ein paar Brocken des Gespräches aufzuschnappen. Ich lauschte dennoch, nun ja, viel mehr Interessantes gab es nicht zu tun. Das Wetter und die Verzögerung waren natürlich das Thema. Die drei Ersten des Teams würden heute fliegen können. Die Anderen erst morgen, was zum Unmut der späteren Gruppe führte. Man schlug vor, kurzfristig auf Fahrzeuge oder Hubschrauber umzusteigen, was noch deutlich teurer und zeitaufwändiger wäre. Doch so dramatisch sei das alles gar nicht, wären schließlich ohnehin drei Anreisetage in die Planung einkalkuliert. Es wurde überlegt, andere Passagiere des Fluges 2 zu einem Tausch zu überreden. Das Team studierte den Wartebereich und deutete auf verschiedene Personen. „Nun lasst doch die Kleine, sie sitzt schon seit heute Morgen hier. Viel länger als wir.“ Damit konnte nur ich gemeint sein, waren ja alle Anderen von Flug 1 bereits abgereist und nur ich als einzige Frau von den frühen Wartenden übriggeblieben. „Gegen dieses Leichtgewicht können wir kaum einen von uns austauschen.“ lachte einer der stämmigen Kerle. Die Blicke brannten in meinem Nacken. Nervös zogen sich meine Schultern nach oben und ich sank etwas tiefer in den Sitz. Ich versuchte angestrengt mich nicht herumzudrehen und dann tat ich es unvermeidlich dennoch. Ich blickte in die sieben starrenden Augenpaare, die mich genaustens musterten. Viel zu schnell drehte ich mich zurück, wollte die Scham wegblinzeln und konzentrierte mich vorgeblich auf die Landkarte in meinen Händen, mit der ich zuvor versucht hatte mir sämtliche Brücken- und Gipfelnamen einzuprägen, damit ich die Berge erkennen würde, wenn sie bald vor mir stünden. Vor wenigen Minuten hatte ich mich noch gefreut, dass mein Flug doch heute noch starten würde und nun wollen mir diese Herren meinen Platz streitig machen? Was sollte ich tun, wenn sie mich bitten würden? War nicht das Gelingen deren Expedition wichtiger als meine eigene, einzelne, pünktliche Reise? Ich könnte auch morgen fliegen, eine weitere Nacht im netten Hotel verbringen. Ich sollte der Expedition den Vortritt lassen. Einen Moment lang überlegte ich, auf die Gruppe zuzugehen und ihnen mein Ticket zu überlassen. Da ging ein aufgeregter, kleiner Flughafenangestellter auf die Diskussionsrunde zu und gab ihnen zu verstehen, dass sie gehen sollten. Im nächsten Atemzug rief er den zweiten Flug auf. Alle gutmütigen Überlegungen waren zu spät. Jedermann war registriert, vermessen und eingecheckt. Jetzt musste alles schnell gehen, keine Änderung war mehr möglich. Das Wetter gestattete einen Flug.
Jeder schnappte sich eilig seinen Rucksack und folgte den Anweisungen der Flughafenmitarbeiter. Wir schritten auf ein gut strapaziertes Flugzeug mit Rostspuren zu. Mir drehte sich der Magen um. Dieses kleine, nein winzige Flugzeug würde zwischen den gigantischen Bergen des Himalaya erscheinen wie eine zierliche Fliege. Was mache ich hier nur? Es gab kein Zurück mehr. Hintereinander wurden wir zehn Passagiere in die Klapperkiste hineingedrängt, einer rechts, der nächste links auf die einzelnen Sitze. Eilig wurde das Gepäck zwischen den Beinen verstaut, die Gurte kontrolliert und die kleine Fliege donnerte über den Asphalt der Startbahn.
Rappelnd hob das Metallstück ab. Ich krallte mich an meinen Sitz und erinnerte mich gelegentlich ans Weiteratmen. Jeder Windzug schüttelte das Flugzeug. Meine Mitpassagiere japsten und keuchten vor Schreck. Ruckzuck waren wir in einer grauen Wolkensuppe verschwunden. Bei jedem Ruckeln und Donnern des Windes kniff ich die Augen zusammen. Das werde ich nicht überleben. Tausend Tode starb ich in Gedanken. Wenn wir nicht abstürzten würde ich einen Herzinfarkt vor Aufregung und Furcht bekommen. Nie wieder! Nur noch zurück nach Kathmandu, aber nur bei schönstem Wetter, würde ich ein solches Flugzeug betreten. Meine Finger zitterten, es fröstelte mich ängstlich in meinem Innersten. Wie nichtig meine Empfindungen bis dahin waren, würde ich erst später realisieren.
Nicht frei wie ein Vogel, winzig wie ein Fliege flogen wir. Der Wind spielte mit uns. Inzwischen mussten wir uns im Berggebiet befinden. Unsichtbare Felswände umzingelten uns, Schluchten taten sich unter uns auf. Schweißperlen bildeten sich über meinen Lippen, Angstschweiß. Ich erinnerte mich an die Regeln zum überleben eines Flugzeugabsturzes, zu welchen ich mich belesen hatte. Kopfschütteln dachte ich, unter diesen Sitzen befindet sich ganz sicher keine Schwimmweste. Prüfend wanderte mein Blick zur Decke. Nicht nur auf die Gepäckablagen wurde verzichtet, dort würden auch keine Sauerstoffmasken bei Druckverlust herausfallen. Wozu denn auch? Was hier passiert, wäre das Ende. Nicht umsonst gilt dieser Flug als der gefährlichste der Welt und die Landung in Lukla als die schwierigste und spektakulärste. Ich muss verrücktgeworden sein. In diesem Leichtflugzeug wurde auf alles Denkbare verzichtet, nicht nur auf Flugbegleiter und Gepäckaufbewahrung, es gab nicht einmal eine Tür zum Cockpit. Nur ein schwarzer Vorhang schottet die Piloten von den Passagieren ab. Man konnte sogar die Töne der Fluginstrumente und die Gespräche der Piloten hören, wenn man es denn verstand. Kein Wunder das jeder beim Check-In gewogen wurde. Und wehe das Abendessen war zu mächtig ausgefallen. Wahnsinn!
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WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCH
AdventureEin lebensveränderndes Abenteuer einer jungen Frau.