Ein zitterndes Zelt im Sturm ...

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Thomas beugte sich zu jemanden im Schnee herunter und setzte ihn auf. Ich gelangte gerade zu ihnen. Ein junger Mann saß abwesend im Schnee vor uns, vollkommen in seinem Schock verloren. Auf seinen kurzen schwarzen Locken weiße Eiskristalle, keine Mütze schützte ihn. Ich zog ihm wenigstens die Kapuze seiner dünnen Jacke über, bevor wir ihn zu zweit aufrichteten. Er schien noch immer neben sich zu stehen, kam nicht zu Sinnen. Seine silberglänzende Militärplakette lugte aus dem Reisverschluss hervor. „Kommen sie zu sich, Soldat!“, versuchte ich es mit lächerlich derber, ernster Stimme.
So unsinnig ich mir auch vorkam, seine Haltung richtete sich auf, Spannung kam in ihn zurück, sein Blick klärte sich. Seine großen dunklen Augen blickten zwischen Thomas und mir hin und her, als hätten wir ihn aus einer Traumwelt gerissen. Was machte ein junger Corporal hier? Er war hier ebenso fehl am Platz, wie ich. „What is your name?“ versuchte ich ihn weiter abzulenken. „Aiden.“ „I’m Mike“, der andere Passagier war uns ebenfalls hinter dem Felsen hervor gefolgt. „I’m Emilia, this is Thomas.“, gestattete ich mir auch unseren Retter vorzustellen. Er war inzwischen einige Schritte weitergegangen, sah sich um, studierte den Berg über uns durch die Wolken und Schneewehen hindurch mit einem Fernglas, prüfte Kompass und Höhenmessgerät, um festzustellen, wo um Himmelswillen wir uns befanden. Er ging weiter, suchte wohl seine Kollegen. „Ach, Hans nicht doch!“ hörte ich ihn schmerzerfüllt rufen. Instinktiv ging ich zu ihm. Unter Hans‘ blutiger Leiche, kauerte jene Frau, der ich im Flugzeug nicht helfen konnte. Sie hatte sich vollkommen in ihrem Wimmern verloren, bemerkte unsere Anwesenheit nicht. Als ich sie sanft berührte, Schrie sie auf. Die beiden Amerikaner sahen zu uns, wir winkten sie herbei. Gemeinsam versuchten wir der hysterischen Frau aus den Trümmern zu helfen. Sie war sichtlich stark verletzt und hatte ein gebrochenes Bein. Das Blut durchtränkte ihre Kleider. Wir schleppten uns zurück hinter den Felsvorsprung. Thomas sammelte noch ein paar Nützlichkeiten ein und kam zu uns. Die Verletzungen der Frau konnten wir kaum versorgen. Wir versuchten es mit dem Inhalt des verschmorten Verbandskastens, welchen Thomas gefunden hatte. Aiden war beim Helfen wieder ganz zu sich gekommen, eben ein echter Soldat durch und durch.
Gemeinsam beratschlagten wir die nächsten Schritte. Thomas klärte uns sachlich über unsere Lage auf. Wir waren noch auf fast 5000 Metern Höhe. Der viele Neuschnee und der Sturm machten unseren Standort lawinengefährlich. Wir konnten nicht bleiben. Über uns, ca. zweihundert Höhenmeter und etwa drei Kilometer Weg entfernt, war ein Sattel, von wo aus mehr Übersicht zu erwarten war und der ein sichereres Lager versprach. Mike wollte sich nicht vom Absturzort entfernen, hoffte auf baldige Rettung. Bei dem anhaltenden Sturm würde heute allerdings kein Helikopter kommen können, wenn überhaupt in absehbarer Zeit. Die Frau wurde vor Blutverlust und Schmerzen bewusstlos. Sie konnte keineswegs aus eigener Kraft laufen. Aiden sah sich verantwortlich für sie. Also beschlossen wir, das Thomas und ich vorausgehen würden, einen Weg spurend für das eventuelle Nachkommen der Anderen. Wir sollten die Situation auf dem Sattel prüfen und ein Lager errichten, falls es machbar wäre. Wir zogen die Steigeisen über, ich nahm meine Trekkingstöcke zur Stütze durch den hohen Schnee. Es begann ein quälender Aufstieg. Fünf oder sechs Schritte kam ich voran und rang schon keuchend nach Luft. Ich erinnerte mich an Höhenatemtechniken von denen ich einst gelesen hatte. Die machten es etwas erträglicher, ich drohte nicht mehr zu ersticken, doch mit Thomas konnte ich kaum Schritt halten. Ich folgte lediglich seinen Schneestapfen. Mein Herz schwoll an, ich hörte es in den Ohren schlagen, begleitet vom Tinnitus und dröhnendem Kopfschmerz. Sonst war da nichts. Nur ich, der Natur vollends ausgeliefert. Bei einer kurzen Trinkpause freute ich mich über den noch warmen Frühstückstee aus meiner Thermoskanne. Die drei Wegkilometer wurden hier zu einer schier endlosen Schinderei. Je steiler der Anstieg wurde, um so heftiger schien mich mein Rucksack hinunter zu zerren. Am liebsten hätte ich ihn von mir geschmissen, doch war darin alles, was mich vor dem unweigerlichen Tod schützte. In den vielen einschnürenden Kleiderschichten konnte ich mich nur schwerlich bewegen. Das Schneetreiben wirbelte mir stechende Eiskristalle ins Gesicht. Und wenn ich einfach sitzen bliebe? Wie lang würde es dauern, bis ich keine Schmerzen mehr spüre?

Als ich schließlich über den Sattel blicken konnte, war ich glückselig Thomas wieder zu Gesicht zu bekommen. Nur noch wenige Schritte entfernt hatte er schon begonnen, den Schnee für das Lager zu ebnen. Wortlos schmiss ich endlich den Rucksack von den Schultern und tat es ihm gleich. Mühselig schoben wir den Schnee ebnend auf einen Haufen in der Windrichtung. Schlugen wir ihn nicht fest genug, wehte er sogleich zurück auf die geebnete Fläche. Nach gefühlter Endlosigkeit hatten wir eine schützende Schneemauer errichtet und trotzten dem Wind beim Aufbauen des leuchtend orangenen Zeltes. Ob man dieses von einem Helikopter aus sehen könnte?
War das Zelt schließlich errichtet, eingegraben in den Schnee, fielen wir vor Erschöpfung keuchend hinein. Hier drin waren wir nun endlich vor den spitzen Nadelstichen der Eiskristalle des umherwirbelnden Schnees geschützt. Unsere blassen Gesichter wurden langsam wieder glühend durchblutet. Thomas kramte einen kleinen Gaskocher aus seinem Rucksack, auf dem er in einem Topf mühselig Schnee schmolz. Ich schenkte uns zunächst den restlichen Tee aus der Thermoskanne ein, welchen er dankend annahm. Wir waren in unsere Schlafsäcke geschlüpft. Die nasse Oberbekleidung und vereisten Schuhe hatten wir zum Trocknen am Fußende vor dem Zeltausgang ausgebreitet. Mit der Zeit breitete sich durch den Kocher und unsere Körperwärme eine ertragbare Temperatur im Zelt aus. Wir untersuchten unser Gepäck, was wir Brauchbares darin finden konnten, verarzteten meine Stirn, teilten den Proviant auf und studierten die Landkarte ausgiebig, wo wir uns befinden könnten. Da draußen die Umgebung kaum zu erkennen war, gab diese uns keinen eindeutigen Hinweis. Wir aßen und tranken, putzten Zähne mit geschmolzenem Schnee. Es dämmerte draußen. Der anhaltende Sturm ließ den Himmel eher dunkeln als üblich.
Schnorbsende Schritte im Schnee, laute Schnappatmung kündigten uns die Ankunft von Mike und Aiden an. „Verdammt!“, murmelte Thomas grimmig. Was war los mit ihm? So war es doch vereinbart. Ja, es bedeutete, dass auch die junge Frau verstorben ist. „Packst du bitte die Vorräte ein.“ Ich tat wie mir geheißen. Mussten wir das Essen rationieren? Er räumte den Zelteingang frei.
Aiden steckte sein strahlendes Gesicht durch die Zeltöffnung. „Ha, we’ve found you guys!“ Woher nahm er nur diesen Sonnenschein? Mit einer wedelnden Handbewegung bedeutete ich ihnen, dass sie sich beeilen sollten. Sie brachten die Kälte herein. Wie die beiden großen Männer in das kleine Zelt hereindrängten, überkam mich ein Moment des Unwohlseins, als Frau allein zwischen den drei Männern. Doch Aidens fröhliches Gemüt und Thomas‘ beruhigende, sanfte, fachkundige Art ließen diese albernen Gedanken verfliegen. Mikes ernster, nervöser Gesichtsausdruck verriet seine Furcht. Er versuchte coole Mine zum bösen Spiel zu machen.
„Kannst du mir vertrauen?“ murmelte Thomas mir leise zu. Ich biss mir auf der Unterlippe herum. Was hatte er vor? Blinzelnd nickte ich. Meinen Schlafsack reichte er Aiden, der kein Equipment mehr bei sich hatte. Verwirrt folgten meine Augen dem kuschligen, dicken Wärmespender wie er vom einen zum anderen übergeben wurde. Aiden dankte nickend und machte es sich bequem, wie Mike, der umständlich in dem kleinen Zelt seinen Schlafsack ausbreitete. Ich sah wieder zu Thomas und erwartete eine Erklärung. Der öffnete nur den Reisverschluss seines größeren Höhenschlafsackes und lud mich in die warme Hülle ein. Nach kurzem Zögern und der Feststellung, überhaupt keine andere Wahl zu haben, kuschelte ich mich neben ihn und zog den Reisverschluss zu. Wir beiden eher schmächtigen Persönchen hatten gerade ausreichend Platz, so dass es fast gemütlich war. Nach all der Panik des heutigen Tages, fühlte ich mich nun geborgen, war es doch beinahe wie ein aufregender Campingausflug mit Freunden, wären da nicht die vielen Toten. Überwältigende Erschöpfung überrollte mich. Ich lauschte dem Gemurmel der Männer.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt