Tage der Zweisamkeit ...

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Im Moment da ich vorsichtig eintrat, sah Thomas erschrocken zu mir auf und dann auf seine Uhr. Er hatte wohl die Zeit vergessen. Das Tablett stellte ich auf dem kleinen Beistelltisch zwischen den Sesseln ab und servierte das Essen am Schreibtisch, nachdem Thomas das Nötigste aufgeräumt hatte. Ich setze mich ihm gegenüber.
„So war das eigentlich nicht gedacht. Ich bin anscheinend kein guter Gastgeber. Es tut mir leid, dass du nun für uns kochen musstest.“ Ich lächelte ihn an und strich ihm besänftigend über die Wange. „Es hat mir Freude gemacht. Die Speisekammer ist so prachtvoll, da kann man sich in den Kochkünsten austoben. Wie kannst du das alles nur jemals verzehren?“ „Kann ich nicht, sämtliche Rester werden Viehfutter. Wenn die Ernte so weitergeht, können wir ein Gasthaus ausstatten.“
Es schmeckte ihm. Ratzfatz war alles aufgegessen. Er blickte mich zufrieden an und erzählte von seiner Arbeit, die ihn vorhin die Zeit vergessen ließ. Erneut bat er um Entschuldigung, sich nicht um mich gekümmert zu haben. Ich ging um den Tisch herum, setzte mich seitlich auf seine Knie. Mit einem Kuss auf die Stirn sagte ich ihm, dass er sich nicht zu sorgen braucht. Er musterte mich als wollte er wissen, ob es mir tatsächlich nichts ausmachte. Seine warmen Finger strichen über meine nackten Beine, ich trug noch immer nur sein Hemd.
Ich versuchte alles, ihm sein schlechtes Gewissen zu vertreiben. Er sollte sich nicht Sorgen. Ich fühlte mich wohl hier bei ihm.
Ein paar liebevolle Küsse waren genug und seine Bedenken waren dahin. Seine Finger glitten meine Oberschenkel hinauf. Als er realisierte, wie wenig ich trug, lehnte er sich tief seufzend in seinen gepolsterten Schreibtischstuhl zurück. Ich öffnete seine Hose, schob sie gerade weit genug hinunter. Seine Hände an meinen Hüften hielten mich auf ihm. Ansonsten rührte er sich nicht, genoss ergeben meine langsamen Bewegungen. Er stöhnte, als wäre ich die größte Erlösung für ihn.
Ich liebte ihn.

Die halbe Nacht saßen wir in den Sesseln am Kaminfeuer. Wir redeten über Gott und die Welt. Er erzählte mir alles, seine gesamte Lebensgeschichte. Ich sog alles in mich auf, was aus ihm heraussprudelte. Es schien als würde er sich alles von der Seele reden, was ihn freute, was ihn bewegte und was ihn schmerzte. Ich tauchte ein in sein aufregendes Leben. Tränen rannen mir aus den Augen, wenn ich seine Trauer und seinen Schmerz spürte. Wir lachten laut und herzlich über seine schönsten Erlebnisse. Mit jedem Wort liebte ich ihn mehr. Tief in der Nacht ließen wir uns ein Bad ein. Er schwärmte von den höchsten Bergen und weitesten Wüsten. Er wollte mir die Welt zu Füßen legen. Ich meinte, nicht für derartige Abenteuer geschaffen zu sein. In den Träumen litt ich noch immer unter den Erlebnissen des Flugzeugabsturzes. Er würde auf mich aufpassen, doch ich bat ihn lieber auf sich selbst Acht zu geben. Er könnte mir viel größeren Kummer bereiten.
Am nächsten Morgen bedauerte ich, bei seinen Erzählungen irgendwann im gemütlichen Bett eingeschlafen zu sein. Ich wollte ihm ewig zuhören.
Ich lag allein in den zerwühlten Laken. Thomas war bereits im Büro fleißig an der Arbeit. Ich besuchte ihn, strich mit den Fingerspitzen seine Schultern entlang, gab ihm einen Kuss auf die Wange, ging um ihn herum und auf dem Weg zur Tür hinaus sagte ich: „Ich mache Frühstück!“ und ging hinunter ohne seine Widerworte zu hören. Mit üppigen Obstteller, gekochtem und gebratenem Ei, frischen Semmel und Kaffee ging ich hinauf. Er fing mich an der Bürotür ab, hatte sicherlich das Geschirrklappern entlang der Treppe gehört, nahm das Tablett und stieg hinauf zur Dachterrasse. Bei schönster Aussicht genossen wir das Frühstück. Dann nahm er mich mit auf Wandertour, einer einfachen zu meinem Glück. Er zeigte mir seine Lieblingsplätze. Am Abend picknickten wir im Garten, liebten uns unterm Sternenzelt. Es war der schönste Tag im Leben.

Am darauffolgenden erkundete ich das Burggelände, streifte durch die Ruinen, spazierte entlang der Baustellen, träumte wie man alles hübsch herrichten könnte und blickte von der Burgmauer hinab zum vernachlässigten, verwilderten Weingut, für welches er noch Pächter suchte. Der Blick ins Tal und entlang der Bergkette war wundervoll.
Wie ich so staunte, erschrak ich als von fern mein Name gerufen wurde. „Emilia!“, rief Thomas mit voller Kraft aus tiefster Kehle. Ich sah mich um, entdeckte ihn nicht. Blinzelnd der Sonne entgegen, suchte ich die Turmfenster ab. Da stand er. Ich winkte. „Gehen wir spazieren?“ „Ja gern.“ Doch meine Stimme kam wohl kaum bei ihm an. Ich ging zum Haupthaus, sammelte in der Küche etwas Proviant in einen Rucksack. Bei Thomas weiß man nie, wie weit und anspruchsvoll sein Spaziergang wurde.
Er wartete am Tor auf mich und wir schlenderten los. Es war offensichtlich, welche Mühe er sich gab, in meinem Tempo zu gehen. Doch wenn er sich zu sehr im Gespräch verlor, war er schnell einige Schritte voraus. Er berichtete, dass er gerade nicht weiter zu schreiben wusste, er müsse seine Gedanken sortieren. Es sprudelte aus ihm heraus, ging langsam in ein Brabbeln über, als würde er mit sich selbst diskutieren. Ich stiefelte ihm schweigend nach, hörte zu, dachte mit und genoss die Landschaft. Es versteckten sich einige Tiere im Grün. Eichhörnchen, Vöglein, ein Reh? Bäume wuchsen in faszinierenden Windungen. Wenn ich zwischendurch fotografierte, musste ich ihm nachflitzen. Er murmelte fort weg weiter. Auf einmal blieb er stehen, drehte sich um. Beinahe hätte ich ihn umgerannt. „Bist du noch da?“ Ich stand keinen Schritt von ihm entfernt, was ihn zu überraschen schien. Außer Atem nickte ich nur. Er wand sich um und es ging weiter. Ich musste herzlich lachen. Dieser Mann war ein unergründliches Phänomen. Ich ging ihm weiter nach, hatte meine eigene Freude am Weg. Bis der Anstieg in eine Kletterpartie überging. Ihn störte es nicht in seinen Gedanken. Ich blieb stehen: „Thomas, soll ich hier auf dich warten?“ Er sah mich blind an, winkte ab, ohne sein Gedankengespräch zu unterbrechen und ging dann einfach unseren Weg zurück. Ich verstand, was ihn gerade so sehr beschäftigte. Er zergrübelte sein Buch bis ins letzte Detail. Das war also der Grund, weshalb all seine Bücher so gut geschrieben, ausformuliert, reflektiert und besonnen waren, diese Spaziergänge.
Zurück auf der Burg ging er schnurstracks ins Arbeitszimmer. Ich blickte ihm kopfschüttelnd nach. Faszinierend!
Im Innenhof war ein kleiner Garten angelegt, etwas vernachlässigt. Also machte ich mich an die Arbeit, um ebenfalls etwas Sinnvolles zu tun.
Bis zur Dämmerung war die Terrasse gekehrt, in den wenigen Beeten Unkraut gejätet, die Rosen verschnitten, die Gartenmöbel geputzt und ein Strauß auf dem Esstisch. Ich fand ein paar Kerzen, verlief mich in den Keller mit seiner Bergausrüstung und stibitzte eine der Gaslaternen für den Gartentisch. Heute bereitete ich das Abendessen hier draußen. Nachdem alles fertig war, rief ich zum offenen Bürofenster hinauf. Nach einigen Malen kam ich mir lächerlich vor, kläglich hinauf zu schreien. Als ich ins Gebäude stapfen wollte, kam er endlich ans Fenster. „Was hast du denn angestellt?“ rief er hinunter. Ups, war ihm das nicht Recht gewesen? Hatte ich mich zu sehr in sein zu Hause eingemischt? Alle Farbe wich mir aus dem Gesicht, mein Lächeln war verflogen, bis ich sein schelmisches Grinsen erkannte „Das sieht schön aus!“ setzte er nach. „Kommst du zum Essen?“, ich war etwas verärgert über den Schrecken, den er mir versetzt hatte. „Ich bin gleich da, Liebling.“ Pah … Ja, so einfach zauberte er mir mein Lächeln zurück auf die Lippen. Sein Liebling hatte er mich noch nicht genannt. Doch ich ahnte, dass er genau wusste, wie er spielte. Da kam der Frechdachs herausgeschlendert. Ich funkelte ihn Böse an, ich hatte sein Spiel enttarnt. Allerdings hielt ich es bei seinem Grinsen nicht lang durch, vorzugeben eingeschnappt zu sein. Wir verbrachten einen fröhlichen Abend bei Grillenzirpen im Garten.

Am Dienstag meiner Urlaubswoche studierten wir meine Fotografien, er wollte einige in seinem Buch verwenden. Tags darauf legte er mir einen Nutzungsvertrag vor die Nase. Für sieben Fotos wollte er mir zweitausend Mark zahlen. Wir diskutierten ernst darüber. Ich wollte ihm die Bilder gern überlassen. Allerdings wollte er mir wiederum klarmachen, dass ich mit meinen Fotografien tatsächlich Geld verdienen konnte.
Er wollte mich bei sich haben, mich als Fotografin mit auf Reisen nehmen. Ich grübelte darüber nach, wie wichtig mir ein sicherer Beruf und ein geregeltes Einkommen war. Ja, es klang aufregend und traumhaft, was er mir anbot. Aber könnte ich so auf Dauer leben? Er verlangte in diesem Punkt sehr viel von mir, viel Risiko.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt