Ersehnte Zeilen ...

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Es vergingen zwei weitere Wochen, bis ich mit flatterndem Herzen einen handgeschriebenen Brief entfaltete. Er musste von ihm sein.

Liebste Emilia,
ich hoffe mein Brief erreicht dich noch vor den nächsten Pressemeldungen. Für dieses Mal sind wir am Lohtse gescheitert, zwei meiner Begleiter sind an Höhenhusten erkrankt, wir mussten abbrechen. Das Wetter war eine Herausforderung. Ich bin wohlauf und froh dir endlich Nachricht senden zu können.
Bist du wohlbehalten in die Heimat zurückgekehrt? Ich hoffe auf einen baldigen Brief von dir. In zwei Wochen dürfte ich zurück auf Kastelbell sein.
Sei herzlich gegrüßt, Thomas.

Viel zu kurz! Ich wollte mehr wissen. Was war geschehen? Was musste er erleiden? Wo trieb er sich nun herum?
Noch stand ich mit dem Hausschlüssel in der einen, den Brief in der anderen Hand, vor der Veranda. Ich las ein zweites Mal und stürzte dann ins Haus, an den Schreibtisch in meiner kleinen Bibliothek.

Mein lieber Thomas,
herzlichsten Dank für deinen Brief! Ich bin glücklich von dir zu hören, hatte lang darauf gewartet. Doch leider schreibst du viel zu knapp, wie es dir geht. Was hast du erlebt? Tausend Fragen liegen mir auf der Seele. Was sind deine nächsten Pläne?
Ich bin gut daheim angekommen, doch die Welt hier ist nun eine vollkommen andere. Es ist kaum auszuhalten. Nur die Berge sind die gleichen geblieben.
Wie kannst du diesen Trubel nur ertragen?
Ich vermisse deine ansteckende Seelenruhe, deine beruhigende Nähe.
Liebe Grüße, deine Emilia.

Zwei Mal schrieb ich und zerriss den Brief wieder, um schlussendlich doch erneut das Gleiche zu schreiben. Klang es zu sehnsuchtsvoll oder besitzergreifend, zu persönlich? Er schrieb distanzierter. Ich legte dem Brief noch drei der schönsten Fotos aus Nepal bei und versendete mein Schreiben noch am gleichen Tag, wohlwissend, dass Thomas noch nicht zu Hause angekommen sein wird. Doch so verhinderte ich, dass ich meinen Text noch hunderte Male ändere. Vielleicht würde es ihn auch freuen, daheim von meinem Brief begrüßt zu werden? Ich schüttelte den Kopf und damit diese arroganten Gedanken fort.
Es vergingen zwei unendliche Wochen. An einem Samstag nahm mich Rosalinde mit zu einer Tanzveranstaltung. Sie meinte ich müsse mehr unter Leute gehen, dann würden sie sich weniger für die Presseberichte interessieren. Außerdem machte sie mir ein schlechtes Gewissen, sie nicht immer allein gehen lassen zu dürfen. Ich schätzte sie als einzige Freundin zu sehr, um sie enttäuschen zu können.
In einem Zeitschriftenhandel kaufte ich ein Wander-Magazin, Thomas zierte die Titelseite, und verbrachte den restlichen Abend beim Lesen und war zugleich Anstandsdame von Rosalinde. Die zwei, drei Herren, die mich zum Tanz aufforderten, gaben vor mich entweder wegen meiner traurigen Erlebnisse aufmuntern zu wollen oder fragten mich ungeziemt aus. Sie waren schnell wieder abgewiesen und ich las weiter im Magazin. Ein annehmicher Expeditionsbericht, der dieses Mal nicht von verkaufsgierigen Presseleuten geschmiert wurde. Mit jeder Zeile die ich las, wurde es spannender. Es war ein Bericht von Thomas, über die Expedition am Lothse allein, nicht über die Vorgeschichte der katastrophalen Anreise. Er beschrieb das Vorhaben, die Bedingungen am Berg und die schwierigen Hindernisse, mit ihren verborgenen Gefahren. Der Text war großartig geschrieben, zog mich in seine Welt. Beinahe hätte ich den Tanzsaal um mich herum vergessen.
Als Rosalinde mit Joseph tanzte, wagte ich mich zu verabschieden. Er
würde meine Freundin sicher nach Hause begleiten, wie die Male zuvor. Sie hatten schon öfter miteinander getanzt, mit ihm war sie in guter Gesellschaft.
Daheim wartete ein Brief auf mich. Ich ärgerte mich ein wenig, nicht eher gekommen zu sein, dann hätte ich ihn früher lesen können.

Liebe Emilia,
du glaubst nicht, welche Freude es war, bei meiner Heimkehr schon deinen Brief vorzufinden!
Ich nehme an, mir gut vorstellen zu können, was bei dir vor sich geht. Auch ich war damals schrecklich überrumpelt worden, nach dem Unglück meines Bruders.
Doch inzwischen kann ich mich in meiner Burg verschanzen, wenn mir danach ist. Hier auf Kastelbell ist im Übrigen immer Platz für dich, wenn du das Bedürfnis hast, zu entfliehen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.
Ich schrieb zuvor so wenig, da ich in Eile war. Außerdem weiß man nie, wer einen Brief liest, bis er von Nepal nach Deutschland gelangt. Ich bin vorsichtig geworden.
Die nächsten Wochen werde ich auf Kastelbell erreichbar sein. Ich beginne mit einem Buch, sitze also den ganzen Tag im Büro neben dem Telefon. Du darfst mich gern anrufen, ich freue mich auf eine Schreibpause.
Wenn du meine Einladung nach Südtirol annehmen möchtest, erzähle ich dir hier gern mehr von meiner Expedition.
Ich danke dir auch für die wundervollen Fotografien. Sie hängen bereits gerahmt in meinem Büro.
Herzliche Grüße, Thomas.

Ich taumelte vom Türrahmen ins Wohnzimmer. Mit weichen Knien sackte ich auf dem Sofa zusammen. Er wollte, dass ich zu ihm komme! Lächelnd ließ ich mich zurückfallen. Balu kam schnurrend herangekuschelt. Ach, meine liebe Balu, was soll ich nur machen? Ich war nun offensichtlich nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft für ihn. Ich sollte ihn daheim besuchen. Doch wie stellte er sich das vor? Ich war gerade erst vier Wochen weg gewesen. Da könnte ich nicht schon wieder Urlaub nehmen. Überstunden hätte ich zwar genug, aber wie sähe es mein Arbeitgeber. Und würde die Gerüchteküche nicht noch stinkender, wenn ich für eine Woche erneut verschwinde. Würde es überhaupt jemand bemerken? Wenn ich nicht gerade arbeitete, verkroch ich mich in meinem Haus.
Ich las mehrmals seinen Brief, war aufgeregt, wie ein kleines Kind, hoffnungslos verliebt, wie ein junges Mädchen.
Ehe ich mir überhaupt im Klaren war, hatte ich seine Nummer gewählt. Und er nahm den Hörer schneller ab, als erwartet. "Meisner." brummte es nach dem ersten halben Leuten. "Hallo", hauchte ich atemlos, da ich angenommen hatte, wenigstens noch zwei, drei Atemzüge Zeit zu haben, mir meine ersten Worte zu überlegen. "Emilia!" stellte er erfreut fest. Ich hörte sein Lächeln in der Stimme. Eine Minute lang schmachteten wir uns schweigsam grinsend durchs Telefon schüchtern an. "Vielen Dank für deinen Brief. Wie geht es dir? Störe ich dich beim Schreiben?" "Du störst mich ganz und gar nicht. Ich bin froh dich zu hören." Stille.
"Du fühlst dich nicht mehr wohl daheim?" "Naja, es fühlt sich fremd an. Die Leute sehen mich anders an, sprechen anders mit mir. Und diese penetranten Presseleute ..." "Ich weiß gut, was du meinst. Hast du einige der Berichte gelesen? Der größte Humbug über den Absturz. Es ist das gleiche wie jedes Mal, unzureichende Recherche. Der eine schreibt vom anderen ab, immer sich gegenseitig übertreffen wollend mit dramatischeren Schlagzeilen." "Ja, genau so ist es."
"Wirst du mich besuchen?" "Oh, ich würde zu gern deine Burg sehen! Aber ich kann mir nicht schon wieder Urlaub nehmen." "Wir finden eine Lösung, wenn du es möchtest." "Und was ist mit deinem Buch? Ich möchte dich nicht von der Arbeit abhalten." "Das könntest du auch nicht. Ich würde nur in besserer Gesellschaft arbeiten. Was sicher egoistisch ist, dich hierher zu bestellen und einfach weiter zu schreiben. Aber ich würde dich gern sehen." Ich lächelte vor mich hin. Er möchte mich bei sich haben! "Vielleicht kann ich in einigen Wochen für ein paar Tage frei nehmen. Es ist nicht so leicht bei meiner Arbeit. Ich habe doch schon recht lang gefehlt."
Wir besprachen die Wochen, wann er in Südtirol sein wird und nicht irgendwo in der Welt unterwegs.

Am Montagmorgen stand ich nervös im Büro meines Personalchefs. Wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, blinzelte zu häufig, um das Unwohlsein verschwinden zu lassen. Herr Schmid sah den Kalender durch, prüfte meine Stundenkarte. Leichter als erwartet, bekam ich die Zusage in fünf Wochen für sieben Tage frei nehmen zu dürfen. Man würde mich ja gut kennen, immer fleißig, nie krank, immer zuverlässig. Da wäre eine Ausnahme möglich.
Am gleichen Abend berichtete ich Thomas von der Urlaubsgenehmigung. Wir telefonierten nun öfters. Sogar von seinen Reisen, nach seinen Presse- oder Sponsorenterminen, rief er mich an. Ich trug stets das Telefon durchs ganze Haus, wohin ich mich auch bewegte, in Erwartung seines Anrufs. Wenn ich zu lange nichts hörte, sorgte ich mich, freute mich dann umso mehr seine Stimme zu hören. Ich genoss es, seinen Erlebnissen zu lauschen. Gerade wurden ihm Schuhe für die nächste Expedition im Herbst angepasst. Er wird sie einem Härtetest unterziehen, bevor sie vermarktet werden. Es war spannend, wie dieses exklusive Bergsteigerleben funktionierte, wie er seinen Lebensunterhalt und diese teuren Abenteuer bestreitet.

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