Schimmernde rote Tropfen im weißen Schnee ...

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Ein noch stärkeres Ruckeln als zuvor und ein schrilles Piepsen aus dem Cockpit durchbrach die halbstumme Anspannung im Passagierraum. Es fiepte betäubend in meinen Ohren. Aufregung breitete sich aus. Mit einem Satz ging es abwärts. Wir fielen. Panik erschütterte die Insassen. Mein Herz schlug heftig, raste im Galopp als wollte es aus meiner Brust springen. Wie benommen zog ich eine dicke Wollmütze über, schwang meinen Rucksack auf den Rücken, beugte mich nach vorn, den Kopf zwischen den Knien, die Hände den Nacken stützend. Atmen. Wir stürzten ab. Etwas muss im Sturm in die Turbinen geraten sein. Oder sind sie einfach ausgefallen? Ein Steinschlag von den Felsen ringsum? Es zitterte in mir, so wie das gesamte Flugzeug zitterte.
Ganz im Gegenzug des romantisch beschriebenen Sterbens in Filmen und Büchern, sah ich nun nicht mein Leben vor dem inneren Auge an mir vorbeiziehen. Keine glücklichen Erinnerung zogen bildhaft an mir vorbei. Nein. Ich starrte auf den grauen, schmutzigen Flugzeugboden und meine braunen Wanderschuhe. Atmen. Ich hörte meinen Herzschlag in den Ohren pochen, ein paar Personen begannen Gebete in verschiedenen Sprachen zu murmeln, ein Mann weiter vorn geriet in elendiges Schluchzen. Mit einem Mal ein markerschütterndes Krachen. Ich stieß mit dem Kopf gegen den Vordersitz, die Mütze tat ihren dämpfenden Dienst. Metall kratze über Gestein. Geschrei und Schluchzen tobte los. Wir fielen nicht mehr, wir schlitterten, wie in einem Bobschlitten einen Eiskanal hinab, vollkommen ungebremst. Endlos erschien dieser Sturz, immer tiefer hinab. Wohin?
Mit einem Mal war Ruhe, unter schrillem Knarksen des Metalls, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. Für einen Augenblick ließ der Schreck alle Insassen verstummen. Schockstarre. Ein Augenblick, zwei Augenblicke. Langsam erhob ich mich aus meiner schützenden, doch unbequemen Haltung. Stumme Panik überkam mich bei einem Blick aus dem Fenster. Nichts, nichts als Wolken und tosender Wind, kein Fels, kein Boden. Zu meiner Rechten tat sich ein gigantischer Abgrund auf, welcher nur von den Wolken unter uns verschleiert wurde. Mein panischer Blick wanderte durch die Kabine. Keine Regung aus dem Cockpit, eiskalte Luft drang von vorn in das Flugzeug. Dort würde uns niemand mehr aus dieser Situation retten. Mein Herz zersprang beinahe in meiner Brust, die Kehle schnürte sich mir zu. Unruhe kam wieder über die Passagiere. Verletzte stöhnten vor Schmerz, Unverletzte standen auf und suchten nach einem Ausgang. Mein Blick blieb an Herrn Meisner hängen. Sein Gesicht zum Fenster gewandt, redeten seine beiden Kumpanen von hinten und der Seite auf ihn ein. „Das sieht nicht gut aus. Hier kommen wir nicht raus.", raunte er kopfschüttelnd und Blickte in meine Richtung. Ich wand mich ab. Also lag auch auf der linken Seite nur ein Abgrund unter uns, der uns samt des Flugzeuges zu verschlingen drohte.
Erste Passagiere waren zur vorderen Tür geeilt und rissen sie auf, was das Flugzeugwrack zum wanken brachte. „Stay at your seat! Our position is extremly unstable!" Er übernahm das Kommando. Seine tiefe Stimme donnerte durch den Raum. Einige Personen drehten sich zu ihm um, weitere stolperten dennoch zur offenen Tür und die ersten, zwei Männer und eine Frau sprangen hinaus. Wohin sprangen sie? Weitere folgten ihnen zu der Öffnung. „Pleas dont move!" Doch all seinen Bemühungen zum trotz, wir kippten. Mit einem Ruck war ich wieder in meiner Schutzkauerposition. Stehende Passagiere fielen durch die Kabine. Ein Getöse! Die Rutschbahn wurde unebener. Der felsiger werdende Untergrund zerriss den metallenen Flugzeugbauch. An einer Felserhebung zerbarst scheppernd der linke Flügel, den rechten gab es schon seit dem ersten Aufprall nicht mehr. Wir drehten uns und rasten rückwärts weiter hinab. Erst langsam schien uns das Gestein zu bremsen. Für eine traumatische Sekunde schienen wir noch einmal abzuheben, nur um in der nächsten wieder heftig aufzuschlagen.


Kaum das wir hielten, schnellte mein Blick zum Fenster und sogleich nach hinten zum Meisner. Eine weiße Ebene erstreckte sich unter uns. Ich traf seinen Blick, der schon etwas länger auf mich gerichtet schien. Er nickte mir zu und gab mir zu verstehen, dass wir jetzt aussteigen müssen. Es schien ihm klar zu sein, dass ich ihn erkannt hatte und auf seine Himalayaerfahrene Anleitung vertraute. Könnte er uns retten? Gab es überhaupt eine geringfügige Chance aus diesem Albtraum heraus zu gelangen?


Der stechende Geruch von Kerosin stieg schleichend auf.
„We have to leave! Fast!" Eilig kämpfte ich mich mit dem großen Rucksack aus dem Sitz und durch den schmalen Gang, direkt hinter unserem Kommandanten entlang. Weich wie Gummi waren meine Beine, wollten unter meinem Gewicht zusammensinken. Einige Andere begaben sich zur Vordertür, einzelne blieben sitzen, weitere lagen am Boden. Mein Kopf dröhnte. Meisner riss die schwere Tür auf. Als ich überlegte, zu einer auf dem Boden kauernden, blutverschmierten, weinenden Frau zurückzugehen, um auch sie hier heraus zu bringen, legte Meisner einen Arm auf meine Schulter und schob mich in Richtung Tür. „Wir müssen schleunigst hier heraus." Gleich würde alles in die Luft gehen, ahnte ich bangend. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie einer der Expeditionsteilnehmer der verletzten Frau aufhalf. Ihr blutrotes, schmerzverzerrtes Gesicht brannte sich in mein Gedächtnis, so wie die markerschütternden Schreie beim Absturz. Benommen taumelte ich auf die Öffnung zu und stürzte, eher als zu springen, bei dem letzten Schritt hinaus, tiefer als angenommen. Meisner wollte mich auffangen, bekam mich gerade noch am Rucksack zu packen und dämpfte damit meinen Sturz. Dennoch lag ich bäuchlings im Schnee, versuchte mich eilig aufzurappeln. An der Stelle, wo einen Atemzug zuvor meine Beine waren, sprang der Nächste, mich nur knapp verfehlend. Von Adrenalin und meinem rasenden Herzen angetrieben, kroch ich aus der Schusslinie bis ich auf die wackligen Beine kam. Mein Nachspringer, knietief im Schnee versunken, wurde wiederum von dem nächsten panischen Springer umgerissen. Ihm folgte Meisner, sicher auf den Füßen landend. Er stapfte zielstrebig durch den Schnee. „Hinter dem Vorsprung sind wir geschützt.", wies er mich an und ich eilte in seinen Schneespuren hinterher. Ich steckte meine ganze Kraft in jeden Schritt, versank meist bis weit über die Knie im Schnee. Schließlich kroch ich in der Eile mehr als zu gehen. Ich erreichte japsend den Felsen. Dort angelangt wurde mir ein weißes Tuch vor die Nase gehalten. „Du blutest." Erschrocken schnellten meine Hände an meine Stirn. Klebrig, warm. Ich hatte mir den Kopf angeschlagen. Ich roch den rostigen Blutgeruch und meine Hand wanderte zu meiner Nase. Wie abscheulich! Ich sah die roten Tropfen im weißen, bis her unberührten Schnee und schnappte mir das bereitgehaltene Tuch, tupfte zunächst an der schmerzenden Stirn, wo das Blut bereits trocknete, und dann die Nase. Das Bild der verletzten Frau schoss mir ins Gedächtnis. Ich gab wohl ein ebenso schauerliches Bild ab.


Ein ohrenbetäubendes Krachen erschütterte uns. Schreie, schepperndes Metall, Rauch umgab uns. Das konnten niemals alle überlebt haben. Ich schmiss den Rucksack nieder, machte Anstalten zu den Verletzten zurückzugehen. Thomas nahm mein Gesicht zwischen die rauen, schneekalten Hände. Ernst, konzentriert blickte er mir in die Augen, tastete meinen Schädel und meine Nase ab, studierte meine Verletzungen und Anzeichen einer Gehirnerschütterung. Ich sah zwischen seinen nahen blauen Augen hin und her, schielte ihn ergeben an. Er ließ mich innehalten. Ich lauschte dem Tinnitus in meinen Ohren. Wie hätten wir hier jemanden helfen können? Wir waren auf uns allein gestellt, jeder für sich.


Keuchend trat einer der übrigen Passagiere um den Felsen herum. Er wirkte verwirrt, erschüttert, panisch. Ich zog ihn herunter, dass er sich setzen und beruhigen möge. So saßen wir einige Minuten.
Die Kälte drang schleichend unter meine Haut bis zu den Knochen. Auch die anderen begannen nach wärmender Kleidung in ihren Rucksäcken zu kramen.


Und was nun? Ich war nur eine einfache, kleine Verwaltungsangestelte, die sich diesen schlichten, einfachen Beruf ausgesucht hatte, um bequem ihren Lebensunterhalt gesichert zu wissen und ausreichend Zeit zu haben, dem freizeitlichen Wandern und Fotografieren nachzukommen. Für derartige Abenteuer war ich nicht gerüstet. Wie naiv und unweitsichtig ich mich selbst in diese grausige Situation manövriert hatte, mit dem Denken, Bergtouren in den Alpen gut überstanden zu haben und damit für ein Trekking im Himalaya bereit zu sein. Ein Irrsinn.


Ich zog noch einen Pullover und eine Daunenjacke unter die Windjacke, die Kapuze eng um die Wollmütze gezogen. Meine braunen Locken stopfte ich darunter, damit der Wind sie nicht länger in alle Richtungen fetzte. Mit zwei weiteren Hosen, mehr Kleiderschiechten als ich für meine Tour vorausgeplant hatte, kam zwar kaum mehr Kälte an mich heran, doch konnte ich mich so eingeschnürt weitaus weniger bewegen.


Thomas stand auf: „Ich gehe eben hinüber, sehen wo wir sind. Bleib für den Moment hier." Nein, lass mich hier nicht allein! Ohne ihn wäre ich verloren. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, keine Orientierung. Ebenso hatte ich keine Kraft und Erfahrung mich durch diesen Schneesturm den Berg hinab zu kämpfen. Er war meine einzige Rettung. Der Einzige, der hier einen Ausweg finden könnte. Ich wusste mein Leben hing von seinen Fähigkeiten ab, von denen ich in seinen Büchern gelesen hatte. Ausweglos vertraute ich ihm.
Ein gutes Stück entfernt stapfte ich ihm nach. Ein Schlachtfeld tat sich vor mir auf. Wollte er mich vor diesem Anblick schützen? Sollte ich deshalb hinter dem Felsen auf ihn warten? Ich traute mich nicht, mich genauer nach den Trümmern umzusehen.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt