Gewittersturm ...

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Eines Abends brauste ein Sturm über Kastelbell. Er spiegelte ein wenig unsere Stimmung wieder. Wir waren uns schrecklich uneinig über die Zukunft. Wir grübelten jeder vor sich hin, er am Schreibtisch, ich im Sessel am Feuer. Würde ich bleiben, wäre mein bisheriges Leben unumgänglich verloren. Ich müsste alles hinter mir lassen, Familie, Freunde, mein Häuschen in Oberstdorf. Mein Leben wäre vollkommen abhängig von diesem waghalsigen, vielleicht verrückten Mann, der immerzu sein Leben irgendwo riskierte. Würde ich heimgehen, verließe ich ihn, sicher für immer. Wir hätten keine gemeinsame Zukunft. Doch ich bliebe unabhängig. Ich wog ab, was mich mehr schmerzte, was mich mehr ängstigte. Es ärgerte mich, dass es unweigerlich auf einen tiefgreifenden Verzicht meinerseits hinausführte.

Plötzlich läutete wie wild eine Glocke am Tor. Eine Kinderstimme schrie entsetzlich: „Herr Meisner, Herr Meisner! Zu Hilfe!“ Thomas stürzte hinab, hinaus zum Tor und ich ihm erschrocken hinterher. Vor der Burgmauer läutete ein Junge in kurzen Hosen, völlig durchnässt, unablässig die Burgglocke und schrie. Erst als Thomas ihn an den Schultern hielt, stoppte er und weinte bitterlich: „Ein Blitz, die Scheune brennt. Mein Vater, mein Vater …“ Der Junge blickte Thomas ehrfürchtig, untergeben und hoffnungsvoll an, als wäre er sein König. Auch sein Leben hing von diesem Mann ab.
Wir rannten zum Auto. Ich setzte mich zu dem heulenden Jungen auf die Rückbank, versucht ihn zu beruhigen und legte eine wärmende Decke um das bibbernde Häufchen Elend. Thomas brauste die holprigen Feldwege entlang, ohne auf den Wagen zu achten. Das lodernde Feuer war schon von weitem zu sehen. Kaum kam der Wagen auf regendurchtränkter Wiese zum Stehen, rannte Thomas zu meinem Entsetzen in die brennende Scheune, zum Vater des Jungen. Die Männer versuchten die aufgeregten Tiere aus der Scheune zu treiben. Wo blieb nur die Feuerwehr? Auf der Wiese kauerte eine schreiend, heulende Frau. Sie betete verzweifelt. Bilder aus der Vergangenheit blitzten vor mir auf, sie klang beinahe wie jene Frau damals im Flugzeugwrack. Drei Kinder standen verunsichert weinend um sie herum. Ich schnappte mir die drei, dem größeren Mädchen trug ich auf, ihren Geschwistern im Haus etwas vorzulesen. Die Mutter zog ich von den Knien, sah sie ernst an und gab ihr Anweisungen die Tiere zusammenzutreiben, die aus der Scheune flüchteten. Gemeinsam mit dem Jungen, der uns alarmiert hatte, hielten wir die ängstlichen Tiere in Schach, damit sie sich im Sturm nicht in alle Winde zerstreuten. Ich wusste nicht, was ich tat, doch es funktionierte. Die anderen befolgten meine Anweisungen. Über die Tätigkeit vergaßen die beiden ihr Weinen. Bangend sah ich immer wieder zur brennenden Scheune. Aller Regen vermochte nicht das Feuer des Blitzeinschlages zu löschen. Mein Herz zersprang beinahe als die schwarz verrußten Männer hustend mit den letzten Tieren herausstolperten. Dann kam endlich unter lautem Getöse die Feuerwehr angerauscht und begann eifrig die Löscharbeiten. Als die beiden Männer die zusammengetriebenen Tiere erkannten, sanken sie beruhigt, doch erschöpft auf die Wiese. Die Arbeit war getan. Mehr konnten wir nicht retten.
Ein Nachbar kam mit einer Hand voll Helfern und fragte mich, was sie tun könnten, als hätte ich das Sagen. Ich hatte keine Ahnung.
Mit den Männern vereinbarten sie, die Tiere zum Nachbarhof in den Stall zu bringen. Ich brachte die Frau und ihren Sohn ins Haus. Die anderen Kinder saßen brav am Küchentisch. Das älteste Mädchen las ihren jüngeren Geschwistern vor, wie ich es gesagt hatte. Ich tröstete die Mutter, es sei nichts Schlimmeres passiert, niemand war verletzt, den Tieren ging es gut. Als die Männer zurück waren, wusch sich Thomas grob den Ruß ab, bevor wir ins Auto stiegen. Wie wir so fuhren, schossen mir furchterregende Erinnerungsbilder vom Flugzeugabsturz durch den Kopf, vermengt mit dem heutigen Schauerspiel. Nicht auszumalen, was hätte passieren können.  Endlose Tränen rannen meine Wangen hinunter, tropften salzig brennend von meinem Kinn. Wenn der Familie in Sturm und Brand etwas zugestoßen wäre? Hätten die Männer unter Einsatz ihres eigenen Lebens die Tiere nicht retten können, wäre die Existenzgrundlage der Pächter verloren, sowie auch Thomas‘ Voraussetzung für sein Selbstversorgerdasein. Seine ganze Lebensweise stünde in Frage. Gäbe es genug Rücklagen, einen solchen Schicksalsschlag zu verkraften? Sein Leben hing an diesen Höfen, wie das Bestehen der Höfe an ihm hing. Es wäre alles verloren, wenn er es heute Nacht nicht aus der brennend zusammenbrechenden Scheune geschafft hätte. Wir schwiegen während der Rückfahrt, keiner sagte ein Wort. Ich versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken.
Wir stiegen aus, er hielt mir die Burgtür auf. Erst da bemerkte er mein tränennasses Gesicht. „Emilia, es ist alles in Ordnung.“ Ich zuckte vor seiner tröstenden Berührung weg. Wenn er mich anfasste, würde ich endgültig zerbrechen. Ich stürmte an ihm vorbei in jenes traurige, kahle Zimmer mit dem großen Holztisch. Ich hielt mich daran fest, mir war schwindlig. Thomas trat hinter mich, wollte mich in seine Arme schließen. Ich wirbelte herum, stieß ihn kraftvoller zurück als erwartet. „Das ist zu viel! Ich ertrage es nicht!“, schluchzte ich. Er blickte mich sorgenvoll an. Ich wusste nicht wohin mit mir, wollte seinem Blick ausweichen. Mein Atem ging immer schneller, ich geriet in Panik. Was tue ich hier eigentlich? Mein Herz schmerzte. Tränen liefen immer weiter ungehindert mein Gesicht hinab.
„Es geht allen gut. Was ist los mit dir?“ „Was los ist? Du rennst in eine brennende Scheune, rettest Tiere knapp vor dem Tod, bringst dich selbst fast um und glaubst auch noch, es würde mir nichts ausmachen?“, jammerte ich bitterlich weinend. „Was hätte ich anderes tun sollen?“ „Nichts, das ist es ja. So bist du eben. Steigst auf die gefährlichsten Berge, wanderst wochenlang durch die lebensfeindlichsten Gebiete und ich soll dabei zusehen und nicht vor Sorge umkommen? Das kann ich nicht, Thomas! Es wird nicht funktionieren!“
Ich rannte hinaus, zurück in den kalten, prasselnden Regen, wartete darauf, dass er mich zu einer Pfütze auflöste.
„Emilia, ich bitte dich. Was soll das heißen?“ er klang ängstlich, seine Stimme brüchig. Wir taten uns beiden weh. „Ich muss nach Hause!“ Meine nerven waren zum zerreißen gespannt. „Lass uns reingehen und in Ruhe darüber sprechen, Liebling.“ Er kam noch ein paar Schritte näher auf mich zu. Zog mich fest in seine Arme und hielt mich, als meine Beine vor Schluchzen nachgaben. Die lodernden Flammen leuchteten noch vor meinen Augen, vermischten sich mit den grausigen Erinnerungen an den stechenden Kerosingeruch und dem ohrenbetäubenden Scheppern des zerberstenden Flugzeuges. Ich hörte die Passagiere des Fluges kreischen und den Bauernjungen und seine Mutter heulen. Wir standen eine Weile im Hof, nass bis auf die Haut, kalt bis in die Knochen. Ich schämte mich vor Thomas wegen meines Nervenzusammenbruchs. Er hielt mich fest an seine warme Brust gedrückt. Auch er schniefte. Wir taten einander weh, wenn wir versuchten aneinander festzuhalten. Es war unerträglich. Seine Umarmung brannte sich schmerzhaft in mir ein. Ich boxte gegen seine Brust, damit er mich losließ. Klatsch nass, am Ende meiner Kräfte, ging ich hinein bis rauf ins Schlafzimmer. Dort warf ich die nassen Kleider von mir und zog warme, trockene an. Thomas kam mir nach, seine Augen von Tränen gerötet. Er beobachtete mich vom Türrahmen aus. Ich zog meinen Koffer unter dem Bett hervor und schmiss ihn obendrauf. Von ringsum im Zimmer und aus dem Bad sammelte ich meine Sachen zusammen. „Was tust du?“ fragte er erschrocken mit gequälter Stimme. „Ich fahre nach Hause.“ Für ein paar Minuten war es still. Thomas sah mir ohnmächtig und schockiert beim Packen zu. Es war nur unser weinerliches Atmen zu hören, sein Schluchzen stach mir bitter ins Herz.
„Jetzt fährt aber kein Zug … es ist mitten in der Nacht.“, wollte er mein Tun aufhalten. „Dann warte ich am Bahnhof, bis einer kommt.“, erwiderte ich trotzig. Ich wollte einfach nach Hause, um nicht alles noch schwerer zu machen und endlos in die Länge zu ziehen. Es musste jetzt ein Ende haben. „Ich fahr dich nicht zum Bahnhof.“, seine Stimme brach kläglich ab. Jedes seiner tränenreichen Worte schlug mir in den Magen. Es tat so weh. „Dann laufe ich.“, brachte ich kaum hervor.
Als ich mich mit gepacktem Koffer zu ihm in Richtung Tür drehte, warf er sich vor mir auf die Knie und ergriff meine Hände. „Bitte geh nicht!“ Wie konnten wir es so weit kommen lassen? Dieser wundervolle, stolze, starke Mann kauerte elendig am Rande der Verzweiflung vor mir. Ihn so zu sehen zerriss meine Seele. Meine Beine hielten mich nicht länger. Ich stürzte vor ihm zu Boden in seine Arme. So kauerten wir heulend die restliche Nacht, bis ich kraftlos auf dem Holzparket einschlief.

Ich wachte im Bett auf, er musste mich dort hoch gelegt haben. Thomas war schon wieder im Arbeitszimmer. Hatte er überhaupt geschlafen? Seine Bettseite war unberührt. Mit dröhnendem Kopfschmerz, als Strafe für den gestrigen Weinkrampf, stand ich leise auf. Nebenan sah ich durch den Türspalt zum Schreibtisch. Er sah grauenhaft aus. Das Gesicht bleich wie Kreide, tiefe Augenringe umrandeten die geröteten Augen, ein gehetzter und verzweifelter Ausdruck hatte all seine Lebensfreude verborgen. Daran war ich schuld.
So konzentriert schreibend, bemerkte er mich nicht an der Tür. Ich könnte nun ungehindert davonschleichen und jedem weiteren schmerzlichen Abschiedsgespräch ausweichen. Ich konnte ihm das nicht länger zumuten. Ich war ein quälender Störenfried.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt