Überfallen von Aasgeiern ...

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Wir wurden schleunigst aus dem Helikopter herausgezogen. Man hatte direkt auf dem Flugplatz notdürftige Kabinen mit Tuchbehang als Sichtschutz aufgestellt, drei Stück. Ich warf einen flüchtigen Blick zurück zu den Anderen, Thomas' Mine hatte sich verdüstert. Ahnte er, was uns bevorstand?


Ich wurde von zwei Damen in medizinischer Kleidung, vermutlich Krankenpflegerinnen aus der nächstgelegenen Klinik, in eine der provisorischen Kabinen geführt und sogleich schneller entkleidet, als ich es realisieren konnte. Schuhe, Hose, Jacken ... Die kühle Bergluft bereitete mir Gänsehaut. Sie tasteten mich ab, prüften die Reflexe meiner Gelenke, suchten nach Verletzungen, hörten meine Lungen ab, untersuchten meinen Kopf auf eine Gehirnerschütterung, ohne auch nur ein Wort mit mir zu sprechen. Nur miteinander stimmten sie sich ab. Ich fühlte mich wie eine Marionette, wie sie meine Arme hoben und senkten, mich drehten und wendeten. Blut wurde mir abgenommen, die kleinen Wunden versorgt. Bevor ein Arzt hereintrat war ich schon wieder bekleidet. Er stellte ein paar Fragen auf englisch und gab sich mit einfachen Antworten, dass es mir gut ginge, zufrieden. Er studierte das Klemmbrett mit den Notizen der Pflegerinnen. Sollten die Blutergebnisse eine Erkrankung ergeben, würde man mich benachrichtigen. Alles drehte sich um mich, verschwommen wurde meine Umgebung, die anderen Personen. Jemand führte mich hinaus in Richtung eines Teehauses. Entlang des Weges wartete eine laute Menge. Fotografen, Presseleute, schaulustige Touristen und Einheimische. Wie kamen die alle hier her, ins kleine beschauliche Lukla? Im vorbeigehen prasselten Fragen auf mich ein, die ich lediglich als Rauschen wahrnahm. Blumenketten wurden mir um den Hals gelegt, man Schüttelte mir die Hand. Im Gedränge erkannte ich nicht zu zugehörige Person zu den Armen, die nach mir griffen. Ich wurde weitergeführt, bis ich in einem kleinen Zimmer stand. Zwei schmale Betten rechts und links an der Wand. Auf einem lag ein warmer Schlafsack und frische Kleidung bereit, ein traditionelles, festliches Kleid in leuchtenden Farben. Die Zimmertür wurde hinter mir geschlossen, ich rutschte mit dem Rücken daran hinab auf den Teppichboden. Ich war allein.


In einer Ecke lehnte mein Rucksack. Er sah etwas mitgenommen aus, ein Ebenbild meiner selbst.


Bald schleppte ich mich ins angrenzende Badezimmer. Es gab eine Dusche? Ich drehte sie heiß auf und kauerte eine halbe Ewigkeit unter dem prasselnden Wasser, im warmen Dampf. Keinen klaren Gedanken brachte ich zu Stande, es rauschte in mir. Leere, Kraftlosigkeit. Ich kuschelte mich in den neuen Schlafsack bester Qualität und rührte mich keinen Zentimeter mehr.


Am frühen Abend klopfte es an der Tür. Erschrocken setzte ich mich auf. Oder hatte ich es geträumt?


„Emilia? Please, come to the dinning room. They have a party for us. Let's celebrate, darling." Ich konnte Aidens breites Grinsen durch die Tür hören. Man feierte ein Fest? Nun konnte ich die Klänge freudiger Musik hören. Neun Menschen waren tot, aber sie feierten ein Fest? Ich öffnete die Tür einen winzigen Spalt für Aiden, verschlafen, zerknautscht, nur in einen weiten Pullover und Höschen gehüllt. Ich wollte ihm lediglich mitteilen, nicht kommen zu können. Doch er überredete mein Gewissen, ihm Gesellschaft zu leisten. Thomas wäre auch dort, ertrinkend im Meer der Reporter.


Meine Gruppenempathie unseres kleinen Kreises, die in den vergangenen Tagen erwachsen war, ließ mich schließlich doch nicht ablehnen. Ich streifte mir das bunte, fröhliche Kleid über, alles andere hätten unsere Gastgeber wohl als Beleidigung empfunden. Ich wusch mir den Schlaf aus dem Gesicht, kämmte das frisch gewaschene, lockige Haar und schlich unsicher in den großen Essenssaal.


Mich empfing wilde Musik, Sherpas tanzten mit einfachen Instrumenten umher, trommelten, klatschten, klingelten und flöteten. Auf jedem Tisch standen dampfende Schüsseln mit reichlichen, farbenfrohen Speisen. Sogleich ich eintrat, wurde ich mit unzähligen Blumenketten behangen. Der Saal war so überfüllt, überall drängten sich Menschen, ein unglaubliches Gewusel. Ja, wenn Thomas Meisner verschollen war, wusste eben die ganze Welt Bescheid. War er der Grund für dies alles hier? Es war mit Sicherheit nicht der erste und einzige schreckliche Flugzeugabsturz in dieser unberechenbaren Gegend. Den Unterschied machte er, seine Bekanntheit und der resultierende Massenauflauf der Presseleute. Eine Trauerfeier für die verlorenen Seelen hätte ich leichter nachvollziehen können. Jedoch feierte man hier scheinbar lieber das Leben, als zu trauern. Eigentlich keine schlechte Einstellung, recht beneidenswert sogar. Aber mir lasteten die Schicksale der Verstorbenen zu sehr auf dem Herzen. Ich konnte die Freude im Festsaal nicht gänzlich teilen.


Die fleißige Wirtin trug immer mehr Töpfe und Getränke, Kannen von Tee herbei. Ich bedankte mich für ihre Mühe, sie tätschelte mir die Schulter und zupfte an meinem Gewand. Da ich unter all den Leuten zunächst kein bekanntes Gesicht erhaschen konnte, verzog ich mich überfordert vom Gedränge in eine ruhigere Ecke und beobachtete das überwältigende Treiben. Ich entdeckte Aiden, er tanzte fröhlich zwischen den Einheimischen und nahm ein Getränk nach dem anderen an. Als auch er mich erblickte, tanzte er winkend herüber. Außer Atem setzte er sich zu mir. Und schon kamen zwei Presseteams herbei. Aiden übernahm das Gespräch, ich saß teilnahmslos daneben und stocherte auf einem Tellerchen Reis mit Gemüse und würziger grüner Soße herum. Auch Aiden war festlich herausgeputzt und geschmückt, wie es auch der ganze Raum war. Zwischen dem tanzenden Gewimmel, entdeckte ich Thomas auf der anderen Seite des Raumes, eingepfercht zwischen zahlreichen Reportern. Erschöpft saß er da, mit müdem, traurigem Blick, noch immer in den gleichen Sachen, wie zuvor. Sie hatten ihn nicht einmal zum Frischmachen zurückziehen lassen. Um ihn herum standen seine Expeditionskollegen. Sie schienen fast mehr zum Geschehen zu berichten zu haben als wir, die wir tatsächlich dort gewesen waren. Thomas' Zutun bestand aus ermattetem Kopfschütteln, Richtigstellen und Erklären mit seinen weiten, untermalenden Gesten und Handbewegungen. Am liebsten wäre ich hinüber stolziert und hätte ihn aus dieser Bedrängnis herausgeholt. Jedoch brauchte er niemanden, der ihn beschützte. Außerdem schien es ihm zu wichtig zu sein, für Klarstellungen zu sorgen, sonst hätte er sich nicht festhalten lassen.


Einer der Expeditionsteilnehmer schien in gewisser Weise der Initiator dieses Tumults zu sein, die Werbetrommel schürend. Es ließ sich nun mal nichts besser verkaufen als Sensationen und Tragödien. Es war dieser Kerl, der sich damals echauffiert hatte, als sein Flug verschoben wurde. Und nun postulierte er, nur um ein Haar davon gekommen zu sein, fast beinahe selbst in das Unglück gestürzt wäre. Welch ein Idiot. Er musste ein wichtiger Geldgeber der Expedition sein, anders wäre seine Anwesenheit kaum zu erklären oder zu ertragen.

Seine blauen Augen fanden meine, für einen Moment war der Saal leer, bis das Getöse wieder über uns hereinbrach und er von seinem Nebenmann vom Blickkontakt abgelenkt wurde. Ich erkannte in der ersten Sekunde, wie gern er herübergekommen, wie viel lieber er bei uns in der ruhigen Ecke gesessen hätte.


Ich sprach mit niemanden, beantwortete keine Frage. Das war zu viel für mich. Nach allem Erlebten sehnte ich mich nach friedlicher Ruhe. Somit blieb ich nicht lang und entschuldigte mich bei Aiden. Er erkundigte sich nach meiner Adresse, um einen Brief aus der Heimat senden zu können. Ich kritzelte sie auf einen der bunten Wimpel, zupfte diesen unbemerkbar vom Raumschmuck und steckte Aiden die Notiz zu. Dann verschwand ich.

Ich lag lange wach, starrte an die gelbe Decke, die gelben Wände, schloss die brennenden Augen und öffnete sie doch wieder. Schauderhafte Bilder blitzten vor mir auf. Die vergangenen Tage holten mich mit einer unerträglichen Wucht ein. Nicht die allmählich abklingende Festmusik, sondern meine innere Unruhe vertrieben den Schlaf, war er schon fast über mich gekommen. Fußgetrappel ging entlang der dünnen Wand im Korridor. Energische Fragen fetzten umher. Herr Meisner hier, Herr Meisner da. War es ihm nun endlich gelungen, sich auf ein Zimmer zurückzuziehen? Ich lauschte, wie diese unverschämte Meute noch an seine Tür pochte, zwei Zimmer von meinem entfernt. Er öffnete sie nicht wieder.


Stille legte sich ums Teehaus. Alle waren in ihren Zimmern oder benachbarten Unterkünften verschwunden. Dunkel und kühl war die Nacht. Dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Zu sehr sehnte ich mich nach seiner Wärme, seiner Sicherheit mit der er die Schreckensbilder bisher aus meinem Kopf und meinen Träumen ferngehalten hatte.


WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt