Aufbruch in ein neues Leben ...

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Erst zum späten Feierabend fand ich den Mut, den Personalchef der städtischen Verwaltung aufzusuchen. Rosalinde begleitete mich zum Büro, hinterfragte noch einmal, ob ich das wirklich tun wollte und stärkte mir nach einer nickenden Bestätigung den Rücken. Nach zögerlichem Klopfen, schob sie mich ins Chefbüro.
„Guten Abend.“ „Oh, guten Abend Frau Siegfried. Sie sind also von ihrer Reise zurück.“ Nervös strich ich zwischen den Fingern das Papier des Kündigungsschreibens glatt. Ich brachte keinen Ton heraus. „Was haben Sie da für mich?“ Er streckte die Hand nach dem Schreiben aus, welches ich ihm verlegen reichte. Erstaunt blickte er von dem Schreiben auf. „Es ist äußerst schade, dass Sie uns verlassen möchten. Ich habe ihren Fleiß und ihre Zuverlässigkeit stets geschätzt. Sind Sie unzufrieden mit Ihrer Arbeit?“ Ich holte tief Luft, setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch: „Nein, so ist es nicht, Herr Schmid. Ich habe immer sehr gern für die Stadt gearbeitet. Doch es hat sich privat bei mir recht viel verändert. Es tut mir sehr leid.“ Tränen quollen mir in die Augen. „Mir tut es auch sehr leid, sie zu verabschieden.“ Wir vereinbarten, dass ich noch die anstehenden Arbeiten in den kommenden Wochen fertigstellen und eine neue Kollegin genauer in meiner Arbeit unterweisen sollte. Dann könnte ich besseren Gewissens gehen. Ich trat aus dem Büro heraus, da stiegen die Tränen über den Wimpernrand und kullerten schließlich meine Wangen hinab. Es fühlte sich erschreckend endgültig an. Ich muss verrückt sein, eine so gute Arbeit hinzuschmeißen. Rosalinde umarmte mich und begleitete mich zum Ausgang. Thomas stand, wie vereinbart, mit seinem glänzenden, roten Mercedes auf dem Hof. Er erkannte, wie schwer mir die Kündigung gefallen war. Ohne Begrüßung schlüpfte ich in den Wagen und schlug die Tür zu. Rosa blickte ihn vorwurfsvoll an, was er resignierte. Statt nach Hause, fuhren wir an einen See zum Picknicken. Das stimmte mich fröhlicher.
Zurück am Haus wartete Rosalinde auf der Veranda. „Also du verkaufst dieses hübsche Haus? Ich nehme es. Wie viel willst du dafür haben?“ Vor Freude klatschte ich in die Hände und hopste in eine Umarmung. Damit machte sie es mir sehr viel leichter. Wir vereinbarten 150.000 Mark, etwas unterm Wert, doch es war genug um das Geld anzulegen und später im Notfall ein neues Häuschen zu kaufen.
Stück für Stück packten wir meine Habseligkeiten in Kartons, sendeten ein paar mit der Post voraus nach Kastelbell. An meinen langen Arbeitstagen, widmete sich auch Thomas wieder seinem Buch. Fünf Wochen vergingen wie im Flug. Die Arbeit in der Stadtverwaltung war abgeschlossen. Es stand noch ein Notartermin für den Hausverkauf an. Zur Feier des Tages gingen wir alle gemeinsam Essen: wir beiden, meine Eltern und Rosalinde brachte auch ihren Joseph mit.
Anschließend war es geschafft, das Haus war leer bis auf die Möbel, die Rosalinde übernahm. Erste Sachen von ihr waren bereits eingeräumt. Mein gesamter Besitz war auf drei Autos geladen, einige Kartons bereits vorausgesendet, und so fuhren wir in einer Karavane nach Südtirol.
Alle waren begeistert von der Burg, Thomas führte sie gern überall herum. Balu erkundete die neue Umgebung, ich fürchtete sie könnte sich verlaufen. So groß wie hier, war ihr Revier in Oberstdorf gewiss nicht.
Nachdem alles Gepäck, sämtliche Kartons irgendwo verstaut wahren, fiel mir der tränenreiche Abschied schwer. Doch die nächsten Besuchstermine waren bereits vereinbart. Bald würden uns auch Thomas‘ Geschwister besuchen, um mich kennen zu lernen. Mir bliebe folglich nicht viel Zeit für Heimweh.
Rosa und meine Eltern fuhren davon und ließen mich zurück. Er hatte gewonnen.

Thomas hatte zugestimmt, dass ich eines der obersten Zimmer für mich gestalten durfte. Schließlich hatte auch er sein Arbeitszimmer. Das machte ich mir in den ersten Wochen zur Aufgabe. Meine Rock ‘n Roll Musik ging ihm gelegentlich auf die Nerven, dann flüchtete er nach draußen. Na ja, er hatte es so gewollt, nicht wahr? Ich richtete mich ein, verstaute meine Habseligkeiten in den vielen Burgzimmern. Er ließ mir freie Hand bei der Gestaltung. Damit verlieh ich dem Burggemäuer einen Hauch von dem, was man einen femininen Touch nannte. Ich machte es uns noch etwas wohnlicher.
Ich berichtete Aiden von den Veränderungen in einem Brief. Er hatte mir einige Postkarten gesendet, für deren Beantwortung ich noch nicht die Zeit fand. Ich lud ihn zu uns ein. Er war begeistert von den Neuigkeiten und würde uns im nächsten Sommer besuchen.
Mit den Pächterfamilien vereinbarte ich jeweils einen Tag in der Woche, an dem ich zum Helfen kam, was auch immer gerade anfiel. Im Nachbarort fand ich einen hübschen, kleinen Buchladen, wo ich jeden Samstag und wann immer ich Zeit fand aushelfen konnte. Im August begannen auch weitere Restaurierungsarbeiten an der Burg, die ich beaufsichtigte und gelegentlich mitmachen durfte. Ich hatte alle Hände voll zu tun. An den Sonntagen gingen Thomas und ich in die Berge.

Ich blieb also dort und ging mit ihm, wohin es ihn führte. Manchmal blieb ich zurück, hütete die Burg, begutachtete die fortlaufenden Bauarbeiten bis eine prächtige Anlage entstand. Trotz all meiner entsetzlichen Sorgen daheim, kam er stets zu mir zurück.
Ein anderes Mal begleitete ich die Expeditionsreise als Fotografin und gab später einen Bildband heraus. Niemals flogen wir mehr mit einem Leichtflugzeug, sondern nahmen schlimmsten Falls einen Helikopter. Meist gingen wir jedoch zu Fuß oder fuhren mit holprigen Geländewagen, wir blieben am Boden. Er zeigte mir die Welt.
Im Sommer kam uns Aiden besuchen, brachte Thomas‘ Höhensonnenbrille mit, welche ihm damals im Himalaya geliehen wurde. Das Jahr darauf besuchten wir ihn in Arizona und reisten anschließend zum prächtigen Yosemite Nationalpark.

Mit Thomas Meisner fand ich immer etwas zu tun, es wurde niemals langweilig. Nach einiger Zeit richteten wir in der restaurierten Burg ein Museum ein, abseits unserer privaten Wohnräume. Das war nicht leicht, bei all den äußeren Widerständen. Doch je größer die Herausforderung war, desto ehrgeiziger wurden wir. Wir hielten zusammen.
Wenn er vor Anspannung seiner nächsten Reise von Albträumen geplagt wurde, tröstete ich ihn. Hatte er Panik seine Kocher könnten in den kältesten Regionen der Welt ausfallen, saß ich des Nachts neben ihm, während er die Kocher auseinander und wieder zusammenschraubte.
Als er sich den Fuß bei einem unvorsichtigen Sturz zertrümmerte, hegte, pflegte und beschäftigte ich ihn, bis er gegen alle Erwartungen wieder wandern konnte.
Wir trotzten allen Lügengeschichten, Rufmordkampanien und jeglichen Widerständen.
Ich nahm jede Herausforderung mit ihm an. Wir waren ein gutes Team.
Bei unseren endlosen Gesprächen und Diskussionen kamen wir damit überein, dass jedes Menschentun nutzlos sei und die Natur das Maß aller Dinge war. Ganz egal was geschah, die Natur würde gewinnen.
Verheiratet wurden wir von einem tibetischen Mönch. Unsere Kinder wurden unsere größte Freude.
So lebten wir zufrieden, immer fleißig und stets mit einem neuen Ziel vor Augen, bis wir den letzten Horizont erreichten.

WEISS WIE DER SCHNEE - WIE DIE BERGE SO HOCHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt