Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Herbst
Rúnknǫttr, Titanengrab
Es hatte sie eine weitere Wochen gekostet, bis Iora endlich in einer Verfassung war, zu reisen. Sie hatte unglaubliches Glück gehabt. Etwas weniger und es hätte Monate dauern können oder hätte sie ganz umgebracht.
Sobald sie wieder stehen konnte, war sie in ihrem Zimmer unterwegs. Es war furchtbar, nur im Bett zu liegen. Giræsea hatte sich leider nicht überreden lassen, ihr Bücher aus der Bibliothek zu stehlen. Naja, müsste sie es am Ende eben selbst tun, wenn ihr zu langweilig wurde. Sie hatte es als Witz gedacht, aber gegen Ende war die Versuchung sehr groß.
An Tag fünf gestand sie es Giræsea: "Ich werde wahnsinnig. Ich brauche etwas zu tun. Irgendetwas. Mir scheißegal. Bring mir kämpfen bei." Sie war in ihrem Zimmer auf und ab gegangen. Die Ork hatte abgelehnt. Sehr zu Ioras Unmut.
Erst am letzten Tag vor ihrer Abreise und nachdem Iora so oft gefragt hatte, dass die Zahl bestimmt noch keinen Namen besaß - natürlich hatte sie einen - gab Giræsea nach. "Nur die Grundlagen."
Und zu jedem anderen Zeitpunkt wären die Grundlagen so unglaublich langweilig gewesen. Sie hatte nicht mal ein Schwert, mit dem sie üben konnte. "Ich glaube kaum, dass du es in deinem Zustand halten könntest." Alles, was ihr ihre Lehrerin beibrachte oder beibringen wollte, war die korrekte Fußarbeit. Wie sie zu stehen hatte. Wie sie einen Schritt machte. Und wie sie sich ein Schwert vorzustellen hatte. Giræsea gab ihr keines von ihren. Auch darüber war Iora enttäuscht. Aber es war etwas zu tun. Bei allen Göttern und ihren Ahnen, es war etwas anderes, als im Bett zu liegen. Und es hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass sie Giræsea nur in ihrer Hose und einfachen Binden sah. Allein dafür hatte es sich gelohnt, öfter zu fragen, als es Sterne am Himmel gab.
"Schau her. So." - Iora schaute. Ein Arm ausgestreckt, als würde sie ein Schwert halten. Schultern tief. Rücken gespannt, um ein Gewicht auszugleichen, das es nicht gab. Sie machte einen Schritt nach vorne und stach zu. Die Bewegung wanderte durch ihren Körper. Iora beobachtete, wie sich Muskeln unter ihrer Haut bewegten. Wade. Oberschenkel. Das Becken gedreht. In dem Moment, als sie zustach, atmete Giræsea aus und ihr Bauch spannte. Iora kam nicht umhin, zu bemerken, dass sie weitaus weicher - nicht so kantig - aussah, als sie es sich unter ihrer üblichen Kleidung und Rüstung vorgestellt hatte. Ihr Oberkörper drehte sich; die rechte Schulter schnellte nach vorne und der Arm war gestreckt, um das imaginäre Ziel zu erreichen. Sie wusste, dass Giræsea die Kraft hatte, das Brennholz für kalte Winternächte zu hacken, doch scheinbar würde ihr die Kälte auch so wenig ausmachen.
Iora stand regungslos.
"Mund zu. Zeig mal, wie du dich anstellst."
Iora erinnerte sich, dass sie selbst auch einen Körper besaß und korrigierte ihre Haltung. Giræsea nickte. Und gab ihr dann eine Reihe an Anweisungen. Mehr in die Knie. Ein Bein weiter vor. Die Schulter tiefer. Den Rücken gerade. Sie kam sich albern vor ohne Schwert.
Nachdem Giræsea endlich mit ihrer Haltung zufrieden war, folgte sie der Bewegung, die sie ihr vorgemacht hatte.
"Mhm... Mhm. Nochmal." - Iora wiederholte. Ihre Lehrerin war wieder unzufrieden. "Wenn du mir vielleicht ein Schwert geben würdest...", versuchte sie es nochmal. "Ein Messer würde ich dir vielleicht geben." - "Würdest du? Damit könnte ich arbeiten." Iora deutete ein paar mal an, mit einem imaginären Messer zuzustechen.
"Wie lange, bis du mich so weit hast, dass ich dir ein echtes Schwert gebe?"
"Bei der aktuellen Lage... Heute Nachmittag. Oder nie."
"Warte hier und... Ich weiß nicht. Üb." Giræsea verschwand schnell durch die Tür und Iora stand da. Nagut. Würde sie halt komisch in der Luft rumfuchteln. Sie kam sich noch alberner vor, es alleine zu tun. Mit Giræsea hatte es vielleicht den Wert, dass sie sie belehren mochte. So verstand sie zwar intellektuell den Sinn und kam sich doch... albern vor. Sie hatte kein anderes Wort dafür.
Die Tür öffnete sich. "Na dann. Zeit, etwas abzustechen." Giræsea reichte ihr ein Messer. "Dann kannst du auch gleich alles vergessen, was ich dir beigebracht habe. Das war für ein Schwert. Das wiegt mehr. Du musst fester stehen. Du kämpfst anders. Mit einem Messer musst du schneller sein; besser ausweichen. Du kannst nicht blocken. Ich bin nicht wirklich gut damit, aber wir können schauen, was ich dir beibringen kann."
Giræsea stellte sich neben Iora. "Stell dich so hin. Leicht in die Knie. Eher auf den Fußballen, bereit auszuweichen." Die Elfe imitierte ihre Haltung.
Giræsea erklärte, während sie langsam vorführte: "Schritt links nach nach vorne, Oberkörper tief, dem Schlag ausweichen. Das Messer von unten nach oben in den Bauch. Mit einem Messer musst du näher ran, aber wenn du erstmal innerhalb ihrer Deckung bist, können sie wenig tun. Komm."
Iora tat es ihr nach; folgte ihren Schritten. Die Bewegung war leichter. Sie konnte es sich vorstellen. Sie kam sich noch immer albern vor, doch sie verstand, was sie tat. Sie sah die Wache von Ardport vor sich. Beschissenes Arschloch. War es der, der sie an den Haaren die Straßen entlang geschliffen hatte? Der, der sie in den Hafen geworfen hatte? Die, die ihr das Ohr geschlitzt hatte? Es war ihr eigentlich recht egal.
Sie setzte zu viel Schwung in den Stoß und stolperte nach vorne. Giræsea hielt sie am Arm und stoppte ihren Fall. "Vorsichtig. Nicht übermütig werden." Sie richtete sich wieder auf. "Danke."
"Du weißt, dass Thorgest dagegen ist, oder?"
Iora nickte. "Ich hab es mir fast gedacht."
Lange hatten sie nicht trainiert. Iora war noch nicht so weit genesen, wie sie sich erhofft hatte, und so wurden die Bewegungen schnell anstrengender, als sie erwartet hatte. Sie lag auf dem Bett und starrte die Decke an. Sie fühlte sich besser, nachdem sie sich bewegt hatte. Zumindest nicht mehr, als müsste sie die Farbe von den Wänden kratzen.
"Es wäre ihm bestimmt lieber, wenn ich mich auf die Wissenschaften beschränken würde. Und Magie." Sie sah zu Giræsea hinüber, die noch immer mit einem Messer in der Hand langsame, fließende Bewegungen ausführte. "Du hast mir nie erzählt, warum du so ein Problem damit hast, dass ich Magie lerne."
"Hab ich nicht. Es ist keine Unterhaltung, die ich mit dir führen möchte. Es wäre dir gegenüber nicht gerecht. Du kannst nichts dafür."
Das... war eine Antwort. Nicht wirklich, aber zumindest konnte Iora ein paar Sachen daraus lesen. Sie würde es wann anders nochmal versuchen. Sie würde die Antwort schon noch aus Giræsea herausbekommen. Nicht, dass sie darauf irgendeinen Anspruch gehabt hätte, Giræsea hatte ein Recht auf ihre Geheimnisse. Aber Iora wollte es wissen. Thorgest würde es ihr vermutlich auch nicht verraten, sollte sie ihn fragen. Dafür war er zu gut.
Und dann hing betretenes Schweigen im Raum. Das stimmte nicht. Giræsea folgte nach wie vor ihren Übungen, nur Iora lag da und wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte und wenn ja, was.
"Was macht Thorgest momentan?"
"Ich hab nicht die geringste Ahnung." Giræsea stellte einen Fuß neben den anderen und verbeugte sich in den Raum, beide Messer an ihrer Seite gehalten. "Er meinte am Morgen, er wollte noch etwas erledigen und seitdem ist er nicht zurück."
"Passiert das öfter? Sollten wir uns Sorgen machen?"
"Eigentlich nicht. Die letzten Male bin ich einfach für ein paar Stunden verschwunden und ich denke, damit ist das dann ausgeglichen."
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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantezieDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...