Sixth Satisfaction: Mama

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„Ryoko-chan? Ist noch Tee da?" Kyousukes Stimme klang absolut mitleiderregend, wie sie so kränklich nasal durch den Raum tönte.
Ich gab ein leises Seufzen von mir, trat auf ihn zu und schüttelte kurz die Thermoskanne, die Yuusei, Jack und Crow am frühen Morgen vorbeigebracht hatten.
„Ein bisschen ist noch drin. Reicht vielleicht noch für eine Tasse.", gab ich als Antwort und sah zu dem Häufchen Elend, welches vor mir auf der Couch unter der Decke lag.
Der stolze und furchtlose Leader von Team Satisfaction, Kiryuu Kyousuke, geschlagen und niedergestreckt durch eine harmlose Erkältung.
Und diese Erkältung war auch noch meine Schuld.
Zwei Tage war meine Rettung mittlerweile her und kaum einen Tag nach dieser, hatte das ganze Drama angefangen.
Ein Niesen nach dem Anderen hatte das bevorstehende Unheil eingeläutet.
Und nachdem hohes Fieber ihn nach einem Duell gegen den Anführer einer weiteren Duel Gang beinahe ausgeknoggt hätte, hatten die anderen Jungs und ich unserem großen Anführer mindestens eine Woche Bettruhe aufgedrückt.
Ein Zustand, der ihm zutiefst widerstrebte, wie ich schnell feststellen musste.
Wenn es etwas gab, was Kyousuke hasste, dann war es, nichts tun zu können.
Das hatte ich mittlerweile auch gelernt. Er brauchte Bewegung und ständige Beschäftigung.
Nur herumzuliegen war für ihn die Hölle und so war es keineswegs verwunderlich, dass er ständig am Jammern war.
Entweder es war zu warm oder zu kalt.
Entweder dies oder Jenes.
Egal was, recht machen konnte man es ihm nicht.
„Mir ist langweilig.", hörte ich ihn sagen.
Den Satz hatte ich heute schon mindestens fünfzig Mal gehört.
„Wenn du mir nicht hinterher gesprungen wärst, wäre dir jetzt auch nicht langweilig.", erwiderte ich trocken.
„Wenn ich es nicht getan hätte, wärst du jetzt tot und das wäre noch viel schlimmer.", entgegnete er mir.
Ich fühlte, wie ich rot wurde und drehte mich weg.
Ich würde mich mein ganzes Leben lang deswegen schuldig fühlen.
„Kyousuke-kun..."
Ich fühlte seine Hand, die mein Handgelenk schwach umklammert hielt.
„Setz dich zu mir."

Ein erneutes Seufzen entfloh meinen Lippen.
Ich drehte mich wieder zu ihm um und gab ihm die Tasse mit dem Tee gegen Erkältung. „Hier."
Ich setzte mich neben ihn an den Rand der Couch.
Er nahm die Tasse entgegen, setzte sich leicht auf und trank einen Schluck.
Kurz verzog er das Gesicht, so wie er es jedes Mal tat, wenn er von dem Tee trank.
„Widerliches Zeug."
„Aber wenigstens hilft es, also beschwer' dich nicht. Du solltest den Anderen dankbar sein, dass sie sich überhaupt die Mühe machen und dir die ganze Medizin mitbringen, damit du schnell wieder auf die Beine kommst."
Er sah mich an und errötete leicht. „Ich weiß. Tut mir Leid. Ich bin ihnen ja auch wirklich dankbar dafür."
Ich lächelte leicht.
Mit der rechten Hand tätschelte ich ihm über die Haare. „Braver Junge."
„Bin ich jetzt etwa ein Hund oder was?" Er lachte kurz, aber das Lachen verwandelte sich binnen Sekunden in einen Hustenanfall.
Tee spritzte dabei aus der Tasse auf die Decke und ich nahm die Tasse erst einmal wieder an mich.
„Du solltest vielleicht aktuell nicht so viel lachen. Tut mir Leid.", sagte ich mitfühlend.
„Scheint so.", antwortete er krächzend, nachdem er sich von dem Hustenanfall erholt hatte.
Ich nickte und fühlte mit einer Hand seine Stirn. Sie war warm, aber zum Glück nicht so glühend heiß wie nach seinem Duell am Vortag.
Mein Herz pochte lautstark gegen meine Brust dabei, aber ich versuchte, es zu ignorieren.
„Zum Glück ist das Fieber runtergegangen.", nuschelte ich und nahm die Hand wieder von seiner Stirn.

Ich bemerkte seinen Blick.
Seine Wangen waren immer noch leicht gerötet, aber vermutlich kam das auch vom Fieber.
„Was ist?"
Erst jetzt fiel mir auf, dass sein Fokus meinem Schal galt und nicht meinen Augen.
„Dein Schal... Der Stoff, aus dem er ist, sieht sehr teuer aus.."
Ich schreckte zurück und griff nach meinem Schal.
Nun sah er mir tatsächlich in die Augen. „Bist du wirklich hier geboren?"
Ich schluckte einen Kloß in meinem Hals herunter und nickte wahrheitsgemäß. „Ja, bin ich..."
Immer noch dieser bohrende Blick, der mir eine Gänsehaut bereitete.
„Wie..."
„Ich hole eben mal ein frisches Tuch.", antwortete ich schnell, stand wieder auf und nahm das kleine Handtuch mit, dass am Ende der Couch lag.

So schnell es ging, trugen mich meine Füße zum Bad, wo ich das Handtuch anfeuchtete, damit es wieder kalt und nass war.
Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, als gäbe es keinen Morgen mehr.
Warum musste er mich das jetzt fragen?
Warum jetzt?!
Es stimmte ja wirklich, dass ich hier in Satellite geboren war. Das war nie eine Lüge gewesen.
Aber dass der Schal aus teurem Stoff bestand, den sich kein Normalsterblicher, der hier lebte, leisten konnte... Das stimmte ebenso.
Ich legte das Handtuch beiseite, sah in den Spiegel und zog den Schal kurz aus.
Eine Weile betrachtete ich den dunkelroten, fließend weichen Stoff. Mit meinen Tränen kämpfend.
„Mama..."
Ich drückte ihn kurz an mich, vergrub mein Gesicht darin.
Ich hatte das Gefühl, nach all den Jahren immer noch den Duft des Parfüms riechen zu können.
Der Geruch von Rosen und Sommer.
Kopfschüttelnd wickelte ich mir meine kostbarste Erinnerung wieder um meinen Hals, nahm das Handtuch und verließ das Bad.

Als ich wieder kam, erstarrte ich mitten im Türrahmen und ließ das Handtuch fallen.
Kyousuke war verschwunden.
Vielleicht war er aufs Klo gegangen?
Ich entschied mich, erst einmal zu warten.
Die Zeit verging. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten.
Ich starrte auf die Anzeige der Digitaluhr, die Yuusei scheinbar mal mitgebracht hatte.
Nach einer halben Stunde konnte ich die Anspannung, die stetig gewachsen war, nicht länger leugnen.
Wo zur Hölle war der Kerl?
Vor meinem inneren Auge sah ich schon die schlimmsten Dinge geschehen und lief durch das Gebäude.
„Kiryuu-kun!? Uhm.. Kyousuke-kun!? Wo bist du!?"
Ich rannte nach unten, nach oben. In jedes verdammte Stockwerk.
Suchte jeden Raum, jedes Zimmer ab.
Nichts.
Selbst oben auf dem Dach war er nicht.
Das flaue Gefühl in meinem Magen machte sich immer breiter und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde unangenehmer. Noch dazu fiel mir nun auf, dass seine Duel Disk auch nicht mehr auf dem Tisch lag, wie sie es zuvor getan hatte.
Wo war er nur? Er war doch krank!
So lange war ich doch gar nicht weg gewesen?
Ich überlegte, ob ich versuchen sollte Yuusei, Jack und Crow irgendwie zu erreichen.
Vielleicht war er ja sogar bei ihnen?
Doch dann schüttelte ich den Kopf und lief einfach aus dem Gebäude heraus.
Ich würde ihn schon finden. So schlecht, wie es ihm ging, konnte er gar nicht weit gekommen sind.
So ein sturer Idiot!
Nur weil er die Langeweile nicht hatte ertragen können, war er abgehauen?

Für einen kurzen Moment überkam mich der schauderhafte Gedanke, dass er gar nicht abgehauen war, sondern vielleicht entführt wurde.
Aber wer sollte ihn bitte entführen?
Sicher. Es gab mittlerweile bestimmt einige Leute hier in Satellite, denen er ein Dorn im Auge war. Aber ich war mir sicher, dass kaum einer sich wagen würde, sich ihm noch zweites Mal in den Weg zu stellen.
Andererseits war er krank und geschwächt. Das gefundene Fressen für jeden, der nach Rache sann.
Und vor allem auch, ich schluckte erneut, das gefundene Fressen für die Security-Fritzen vom Public Security Maintenance Bureau. Für die waren die Straßenbanden und Duel Gangs hier in Satellite immerhin ein ständiges Ärgernis und es machte sich sicherlich für eine Gehaltserhöhung gut, vor allem die Leader von solchem „Pack" dingfest zu machen.

Meine Schritte hallten in den leeren Straßen wieder. Nachmittags war es eher ruhig. Erst gegen Abend kamen die meisten Unruhestifter aus ihren Verstecken gekrochen.
Ich rannte und rannte. Suchte überall nach ihm.
In diesem Moment kam mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass unsere Duel Disk gewisse Sender besaßen, sodass wir einander immer finden konnten, wenn wir den Signalen folgten.
Ich war zu verängstigt und besorgt, um auch nur einmal daran zu denken.
„KIRYUU-KUN!?", brüllte ich durch die Gegend, doch eine Antwort bekam ich nicht.
Stattdessen flog mir nur ein altes Werbeplakat durch den starken Wind ins Gesicht.
„Kiryuu Kyousuke! Ich schwöre, wenn ich dich finde, bring ich dich um!", schrie ich erneut und schmiss das Werbeplakat zu Boden.
Ich lief weiter, vorbei an eingefallen Hochhäusern, Bruchbuden, schäbigen Lagerhallen. Vorbei an kaputten Laternen, überfüllten Mülltonnen und einer schwarzen Straßenkatze mit fünf kleinen Babykätzchen im Schlepptau, die meinen Weg kreuzte.
Die Sonne ging langsam unter und allmählich verlor ich auch sämtliche Hoffnung.

Ich blieb an einer halb zerstörten Wand stehen. Mein Atem ging schnell.
Tränen suchten sich ihren Weg über meine Wange, während ich langsam an der Wand den Boden hinabrutschte.
„Kiryuu-kun... Wo bist du nur?", wimmerte ich leise.
Plötzlich vernahm ich von nicht allzu weit weg eine Stimme.
Eine mir bekannte Stimme!

Ich blickte auf, rappelte mich hoch und rannte los in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Jetzt erst erkannte ich die Gegend richtig. Es war das Viertel in dem ich gelebt hatte und die Stimme kam vom Schrottplatz. Meinem alten Zuhause.
So schnell mich meine Beine trugen, lief ich dorthin und blieb letztendlich keuchend stehen.
„Kiryuu-kun!" Mit Tränen in den Augen sah ich zu ihm.
Er stand dort und duellierte sich mit einem ziemlich fies aussehenden Kerl.

Selbst von Weitem nahm ich wahr, dass er schwitzte und leicht wankte.
Er drehte sich zu mir und versuchte ein Grinsen aufzusetzen. „Ich hab doch gesagt, du darfst mich ruhig Kyousuke nennen!"
„Halt die Klappe, du Idiot!", fauchte ich zurück. „Was hast du dir jetzt bitte hierbei gedacht!? Was machst du hier!?"
Eine Antwort erhielt ich nicht.
Kyousukes Monster wurde gerade angegriffen und es stand allem Anschein nach sehr schlecht um seine Lebenspunkte.
„Pff.. Du solltest aufgeben. Du kannst ja kaum Stehen.", hörte ich seinen Gegner sagen und entschied mich in Windeseile, etwas zu unternehmen.
Ich lief zu Kyousuke und packte seinen Arm. „Hör auf damit! Überlass mir den Rest des Duells! Du bist krank verdammt nochmal, das ist nicht lustig!", schimpfte ich. Doch es war mehr ein Flehen, als alles andere.
Kyousuke sah mich an und wankte erneut.
Wieder legte ich meine Hand auf seine Stirn. Sie war genauso heiß, wie gestern.
Mindestens neununddreißig Grad, schätzte ich.
„Das... Das ist aber mein Duell!", erwiderte er stur und wollte mich wegdrücken, als er wieder schwankte und schließlich in die Knie ging.
„Sturkopf!", fauchte ich, schnallte meine Duel Disk vom Arm und schnappte mir einfach seine, die ich mir nun umlegte und die Karten in seiner Hand.
„H-Hey!", protestierte er schwach, aber all sein Gemecker half in jenem Moment nichts.

Tatsächlich zeigte seine Duel Disk nur noch 400 Lebenspunkte an und ich schickte innerlich ein Stoßgebet an Fortuna, dass sie mir Glück gab.
Ich warf einen Blick auf die Karten in meiner Hand und überlegte eine Weile.
Es fühlte sich seltsam an, mit dem Deck von jemand anderem zu spielen.
Da mein Zug, beziehungsweise eigentlich Kyousukes Zug war, zog ich eine Karte und lächelte leicht. Fortuna schien mir wohlgesonnen.
Ich schaffte es, den Spieß umzudrehen und besiegte meinen Gegner, dessen Duel Disk durch das Duell-Seil zerstört wurde.
Wütend fluchend verkrümelte er sich auf der Stelle und ich sah zu Kyousuke, der mich baff anstarrte.

Ich sackte ebenso auf meine Knie und starrte ihn an.
„Idiot!", fauchte ich und verpasste ihm einfach eine Ohrfeige, ohne dass ich groß darüber nachdachte.
Er hielt sich die Wange und sah mich nun erst recht völlig entgeistert an.
Vermutlich hatte er noch nie eine Ohrfeige von einem Mädchen bekommen.
„Du dämlicher, sturer Idiot!", schimpfte ich weiter.
Tränen tropften auf den Boden vor mir, doch dieses Mal war es mir egal ob er mich weinen sah.
Ich hatte echt Angst um ihn gehabt!
„Ryoko-chan..." seine Stimme klang schwach und ich fühlte eine Hand an meiner Wange, die mich aufschrecken ließ.
„Es tut mir Leid. Ich.. Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich... Ich wollte nur..."
„Ein bisschen Action? Richtig? Ein Duell, dass dich glücklich macht und deinen ewigen Hunger nach mehr befriedigt?" Meine Stimme zitterte während ich sprach.
Kyousuke sah zur Seite. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich wollte mir noch einmal diesen Ort hier ansehen. Etwas über dich lernen, weil ich fast gar nichts über dich weiß."
Meine Augen weiteten sich.
Nur deswegen war er abgehauen? Weil ich ihm nie etwas über mich erzählte? Aber... Immerhin kannten wir uns nun auch noch gar nicht so lange...
„Kyousuke-kun..."
Eine Weile sah ich ihn an. Dann bemerkte ich etwas neben ihm.
Es war ein Bild in einem kaputten Bilderrahmen.
Kyousuke hob es auf und hielt es mir vor.
„Ist das deine Mutter?"

Fassungslos nahm ich das Bild entgegen. Meine Hände zitterten und ich biss mir auf meine Unterlippe.
Die Frau auf dem Bild hatte lange, violette, glatte Haare und ebenso grünblaue Augen wie ich. Sie trug den selben roten Schal wie ich und schenkte mir ein engelsgleiches Lächeln.
Ich gab nur ein Nicken von mir.
All die Jahre hatte ich nach diesem Bild gesucht, welches neben dem Schal zu dem Zeitpunkt als ich weggelaufen war, meine einzige Erinnerung an sie gewesen war. Ich hatte das Bild eines Tages hier auf dem Schrottplatz verloren. Es musste mir aus meiner Hosentasche gefallen sein, als ich herumgelaufen war und ich hatte es nie wieder gefunden.
„Mama...", nuschelte ich unter Tränen. Immer und immer wieder.
Meine Tränen tropften auf das zersprungene Glas und ich drückte das Bild fest an meine Brust.
Ich konnte fühlen, wie Kyousuke mich schwach umarmte.
„Jetzt verstehe ich, warum der Schal dir so wichtig ist...", flüsterte er leise in mein Ohr.
Ich nickte nur und schmiegte mich dankbar an ihn. „Danke... Ich danke dir so sehr, dass du es gefunden hast! Vielen Dank, Kyousuke-kun..."
„Ach. Hab ich doch gern gemacht..." Seine Hand strich beruhigend über meinen Rücken. „Sie war eine wunderschöne Frau..."
Ein sanftes Lächeln umspielte meine Lippen. „Das war sie..."

Wir gingen zusammen zurück, das Bild mit einer Hand weiterhin an meine Brust gepresst, stützte ich Kyousuke mit der anderen Hand, da er immer noch fiebrig war.
Als wir wieder zurück waren, sorgte ich dafür, dass er sich sofort wieder unter die Decke legte.
Ich machte noch einmal das Handtuch nass und legte es ihm auf die Stirn.
Dann hielt ich ihm eine von den Tabletten, die die anderen mitgebracht hatten, vor die Nase und ließ sie ihn mit Limonade herunterspülen.
Wieder verzog er das Gesicht und ich kicherte leicht.
„Du wirst dich nie dran gewöhnen oder?"
Er schüttelte den Kopf, so gut es ging. „Nicht in hundert Jahren." Dann legte er eine Hand auf meine.
Ich merkte, wie ich wieder rot wurde.
„Wie war sie so? Deine Mutter?"

Ich wandte mich seinem Gesicht kurz zu und blickte dann zu dem Bild, das nun auf dem Tisch lag.
„Ich weiß es gar nicht mehr so richtig. Ich weiß nur noch,... Dass sie unglaublich liebenswert war und sehr sanftmütig." Traurig lächelnd nahm ich das Bild wieder in die Hand und strich darüber.
„Und weiter?"
„Mhh.. Sie kam aus der Stadt."
„Aus Neo Domino City?" Ich konnte die Verwunderung in seiner Stimme hören und nickte erneut.
„Ja. Sogar von dem Tops von Neo Domino City. Sie war ein Mädchen aus gutem Hause, dass immer brav und anständig war..." Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Zumindest bis zu dem Tag, als sie von Zuhause weggelaufen ist. Ihrem goldenen Käfig entfliehen wollte und dann schließlich meinen..."
Kurz pausierte ich. Allein bei dem Gedanken an meinen Erzeuger schnürte sich mir die Kehle zu.
Doch ich schüttelte nur leicht den Kopf und versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
„Sie traf auf meinen Erz- ehm meinen Vater. Ein armer Schlucker, der sein bisschen Geld in einem kleinen Nudelsuppen-Restaurant verdient hatte, und verliebte sich sofort in ihn.
Natürlich wäre diese Beziehung meinen Großeltern ein Dorn im Auge gewesen, deswegen sind meine Eltern zusammen durchgebrannt und hier her gezogen."
Kyousuke schenkte mir ein sanftes Grinsen und pikste mir in die Seite. „Jetzt weiß ich zumindest, von wem du diese rebellische Art hast."
„L-Lass das! I-Idiot", gab ich verlegen von mir, musste aber selber lachen.
Kyousuke grinste unbeeindruckt weiter. „Aber die Geschichte klingt echt toll. Fast wie ein Märchen."
Peinlich berührt kratzte ich mir die Wange. „M-Mein Erzeuger.. ehm mein Vater hat sie mir mal erzählt.", stammelte ich.
Dann jedoch seufzte ich traurig. „Nur dass dieses Märchen leider kein Happy End hatte..."
Meine Eltern lebten ein paar Jahre recht glücklich zusammen. Aber dann passierte der Zero Reverse.. Danach war alles anders. Sie waren schon vorher alles andere als reich, aber nach dem Zero Reverse und den damit zusammenhängenden Ereignissen wurde es noch schwerer. Mein.. Vater war dazu verdonnert in der Fabrik zu arbeiten, während meine Mutter zu Hause saß, nachdem sie mit mir schwanger geworden war. Nach meiner Geburt, so hat mein Alter es mir zumindest erzählt,... Da haben sie kaum noch etwas zum Leben gehabt. Das, was sie sich haben leisten können, war fast alles nur für mich. Damit zumindest ich eine halbwegs glückliche Kindheit hatte.
Ich bin nie zur Schule gegangen, weil meine Eltern sich die Kosten nicht haben leisten können. Meine Mutter hat versucht, mir einiges beizubringen, aber..."
Ich konnte erneute Tränen in meinen Augen fühlen, während ich das Gesicht meiner Mutter auf dem Bild wieder ansah.
„Aber?"
„Sie.. Sie ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. An meinem sechsten Geburtstag. ... Ist sie.. Sie... ist an dem Morgen einfach nicht mehr aufgewacht!"
Erst jetzt merkte ich, dass ich richtig weinte. So wie schon lange nicht mehr.
Kyousuke hatte sich aufgerichtet und nahm mich in den Arm.
„Shht.. R-Ryoko-chan... Das.. Das.." er wirkte extrem hilflos und sprachlos.
„M-Mama war krank. Sie war schon immer eher kränklich g-gewesen und.. Und sie hat eine Lungenentzündung bekommen. U-und wir hatten kein Geld um die Arztkosten z-zu bezahlen... Sie.. Sie hat immer gekämpft und gelächelt wie auf dem Bild u-und dann war sie... sie..."
Ich zitterte am ganzen Körper, während immer wieder neue Tränen sich ihren Weg bahnten und ihre Spuren hinterließen.
Kyousuke hielt mich so fest, dass ich mich kaum bewegen konnte.
Seine Hand strich durch meine Haare. „Shhht... Ryoko-chan... Es... Es tut mir Leid, was dir passiert ist..." seine Stimme klang fast so weich, wie bei meiner Rettung und ich heulte mich einfach an seiner Brust aus.
Es war das erste Mal seit Mamas Tod, dass ich so ungehemmt weinte.
Vielleicht war es auch das, was ich all die Jahre gebraucht hatte. Einfach all den Schmerz mal herauszulassen, um vielleicht endlich mal ein wenig loslassen zu können.

„Mama hat mir kurz vor ihrem Tod den Schal geschenkt. Es war das einzige, was sie noch von ihrem Leben in Neo Domino City behalten hatte.", erzählte ich schließlich noch, nachdem ich mich ausgeweint hatte.
Kyousuke reagierte jedoch nicht.
Ich hörte ihn verschnupft, aber leise atmen.
Er war eingeschlafen. Sein Kopf lag auf meiner Schulter und für einen Moment genoss ich die Ruhe und seinen angenehmen Geruch.
Vorsichtig löste ich die Umarmung jedoch wieder und drückte seinen Oberkörper sanft auf das Kissen.
Er nuschelte irgendetwas Unverständliches und ich musste unwillkürlich lächeln.
Ich deckte ihn wieder richtig zu. Warf noch einen Blick auf das Bild meiner Mutter.
Nahm das Handtuch, dass ihm wieder von der Stirn gefallen war.
Mit einer Hand strich ich ihm einige Ponysträhnen aus dem Gesicht.
Mein Herz schlug schnell und mein Magen verknotete sich, während ich mich langsam zu ihm herunterbeugte.
„Danke, Kyousuke-kun... Vielen Dank für alles.", flüsterte ich und küsste seine Stirn.

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