Twenty-third Satisfaction: Wie zersplitterndes Glas

7 0 3
                                    

Ich wusste nicht, warum man mich wieder freigelassen hatte.
Ich erinnerte mich an den Schmerz in meiner rechten Wange.
Doch der Schmerz, als man mir meine zweite Markierung ins Gesicht laserte, war ein Witz gegen den Schmerz, erneut von Kyousuke getrennt worden zu sein.
Ich war wirklich naiv gewesen, zu glauben, ich könnte mit Kyousuke zusammen im Knast sein. Zusammen gefangen, als einsam und getrennt.
Nachdem ich meine zweite Markierung bekommen hatte und naiv gefragt hatte, ob ich auch nach Block D kommen würde, hatten die Wärter mich ausgelacht.
„Hör mal, du Satellite-Göre, denkst du wirklich allen ernstes, du kämst zu deinem Geliebten?", hatte einer der Wärter dreckig grinsend gesagt und mir mit seinen eklig-fettigen Fingern gegen meine noch frische Markierung geschnippt, die immer noch schmerzte und brannte.
„Wenn, dann würdest du in den Frauen-Trakt kommen. Da, wo kleine Flittchen wie du, hingehören. Weit, weit weg von deinem Loverboy.", hatte der andere dabei auch lachend gemeint und geklungen wie ein wieherndes Pferd.
Aber sie hatten mich nicht in den Frauen-Trakt gesteckt. Stattdessen war ich für drei Tage in eine Arrest-Zelle gekommen und durfte dann wieder gehen.
Angeblich war ich mit meinen fünfzehn Jahren noch zu jung, um komplett in den Knast zu wandern.
Es sollte mir ja nun eh eine Lehre sein, versucht zu haben, in das Gefängnis einzubrechen, nun, wo man mein Gesicht noch mehr „verschandelt" hatte.
Und auch Strafe genug, dass ich Kyousuke nun vermutlich nicht einmal mehr auf legalem Weg sehen dürfte.
Ich fühlte mich in „Freiheit", gefangener als da drin.
Nun stand ich wirklich vor dem Nichts, ich würde Kyousuke nun wirklich nicht mehr wieder sehen.
Und ihm auch niemals sagen können, dass alles nur ein verdammtes Missverständnis war.
Ihm niemals sagen können, dass Yuusei ihn nicht verraten hatte.

Nun war ich wieder hier, in der verlassenen Oberschule. Unserem Unterschlupf. Dem Unterschlupf von Kyousuke und mir. Wobei das Wort "Unser" sich so fremd auf einmal anfühlte.
Ich starrte in den Spiegel des „Badezimmers", vor dem ich stand.
Starrte für einen Moment meine neue „Errungenschaft" auf meiner rechten Wange an. Die Hauptmarkierung wirkte fast wie eine langezogene Raute, die sich von unter meinem Auge, meine Wange bis runter auf Höhe meines Mundes zog. Am oberen Ende der Markierung waren links und rechts zwei kleinere, dreieckige Markierungen, die etwas nach oben zeigten und aussahen wie kleine Teufelshörner.
Kleiner Teufel, so hatte Kyousuke mich immer genannt.
Ich schlug mit voller Wucht mit meiner rechten Faust in den alten, eh schon kaputten Spiegel, der daraufhin völlig zerbrach.
Mehr Pech als ich sowieso schon hatte, konnte ich eh nicht mehr haben. Was machten da sieben weitere Jahre noch aus?
Ich sah auf meine blutende Faust, Glassplitter vom Spiegel steckten in meinen Fingern, doch ich fühlte den Schmerz nicht.
Der Schmerz in mir drin, war viel schlimmer.
„WARUM?!", brüllte ich die vielen, kleinen Spiegelbilder meiner Selbst an, die auf dem zerschmetterten Spiegelglas zu sehen waren.
„WARUM! WARUM! WARUM?!", schrie ich und schlug immer und immer wieder gegen die von der Wand herabfallenden Scherben.
Ich spürte langsam doch ein Stechen in meiner rechten Hand, doch all die Scherben waren nichts, gegen mein zerschmettertes Herz.
„DAS IST NICHT FAIR!"
Tränen bahnten sich über meine Wangen und ich rutschte langsam die Wand des Badezimmers hinab und blieb auf dem Boden hocken.
Mit vermutlich leeren Augen blickte ich zur Seite und sah eine ganz besonders große und scharfkantige Spiegelscherbe und griff nach ihr.
Jetzt, wo sich auch die letzte Chance vertan hatte, Kyousuke wieder bei mir zu haben, was hatte ich noch zu verlieren?
Hatte mein Leben überhaupt noch einen Sinn?

Doch bevor ich auch nur irgendwas tun konnte, fühlte ich, wie sich eine starke Hand um mein Handgelenk legte, so dass ich die Scherbe fallen ließ.
„Was zum Teufel tust du da?! Denkst du blöde Kuh wirklich, dass es besser wird, wenn du dich umbringst?", hörte ich eine tiefe Stimme mich anblaffen und musste fast lachen.
Mit diesem Kerl hatte ich am wenigsten gerechnet.
Eher noch mit Yuusei oder Crow.
„Jack", sagte ich kraftlos und fühlte, wie er mich in seine Arme zog und an sich drückte.
Er hatte sich neben mich auf den Boden gekniet und hielt mich einfach fest.
Obwohl ich ihn vor ein paar Tagen erst noch angeschrien, geschlagen und getreten hatte, als Kyousuke abgeführt worden war.
Vor ein paar Tagen...
Es fühlte sich wie Wochen an, die seitdem vergangen waren. Wie Monate. Wie Jahre.
„Ryoko...", hörte ich Jack leise sagen.
Ich ließ ihn einfach machen, ich fühlte nichts bei seiner Umarmung. Nicht diese Wärme und Geborgenheit, die ich immer gefühlt hatte, wenn Kyousuke mich umarmt hatte. Obwohl Jack mich wirklich eng an sich drückte, fühlte ich nur meine eigene Resignation.
Eine innere Leere.
„Du solltest das behandeln lassen. Nicht, dass sich das entzündet.", hörte ich Jack sagen. Er klang ungewohnt unsicher. Fast, als würde er zittern.
Tat er es auch?
Ich hatte nur gemerkt, dass er mich losgelassen hatte und sich stattdessen nun meine rechte Hand anschaute.
Ich sah kurz auf, aber eigentlich sah ich nicht wirklich hin.
Meine Hand blutete sehr stark und noch mehr Splitter steckten nun in ihr.
Doch es interessierte mich nicht.
„Hm...", gab ich nur stumm von mir.
„Ich bring dich zu Martha. Yuusei und Crow haben mir erzählt, was du angestellt hast."
Für einen Moment konnte ich sehen, wie Jack sich auf die Unterlippe biss und wohl etwas sagen wollte, doch er beließ es dabei.
Angestellt. Das klang fast, als hätte ich ein Verbrechen begangen.
Dabei hatte ich doch nur... nur...
„Ich... Ich wollte Kyousuke wieder sehen! Ich wollte... Ich wollte ihm die... d-die Wahrheit sagen! I-Ich wollte ihn da rausholen!", platzte es aus mir heraus und erneute Tränen liefen meine Wangen hinab.
Jack sah kurz zur Seite, er schien sich wieder auf die Unterlippe zu beißen.
Doch er schüttelte leicht den Kopf, so viel konnte ich wahrnehmen.
„Ich weiß...", sagte er daraufhin nur und drückte mich wieder kurz an sich. „Ich weiß..."

Und so saß ich einige Zeit später auf dem Bett im Krankenzimmer von Marthas Haus und ließ es über mich ergehen, wie der selbe Arzt, der damals auch meine Verstauchung am Fuß behandelt hatte, mir nur mit einer Pinzette die Splitter aus meiner rechten Hand zog.
Martha stand daneben und sagte nichts, weil ich auch nichts sagte.
Sie starrte mich einfach nur mit einem Gesichtsausdruck an, der mir noch vor ein paar Wochen sicherlich weh getan hätte, aber mich jetzt beinahe kalt ließ.
Eine Mischung aus Schock, Mitgefühl und als wollte sie mich tadeln.
Jack stand mit verschränkten Armen in der Tür am Türrahmen lehnend und schielte mit einem für mich undefinierbarem Blick zu mir.
Er hatte mich gefühlt Huckepack zu Marthas Haus getragen, da ich partout nicht vom Badezimmerboden hatte aufstehen wollen und auch nicht aufstehen konnte.
Einmal nur, hatte er mich heruntergelassen, weil ich mich irgendwann kraftlos beschwert hatte, dass ich selber laufen könnte.
Womit er allerdings nicht gerechnet hatte war, dass ich, kaum, dass ich stand, nach vorne über kippte und mir kurz schwarz vor Augen geworden war.
Ich hatte während meiner Zeit in der Arrest-Zelle mich geweigert, etwas zu essen und nur sehr, sehr wenig getrunken. Fast gar nichts.
Und auch heute hatte ich weder gegessen, noch getrunken.
Mittlerweile musste ich wirklich abgemagert aussehen.
Wenn ich heute so drüber nachdenke, klingt es fast schon ironisch, dass ich mich damals halb zu Tode hatte hungern wollen, wenn man bedachte, welches Schicksal der Mann, den ich liebe, erleiden sollte.

Ich sah wieder zu dem Arzt, der nun nach und nach all die Schnittwunden an meiner Hand desinfizierte. So ein wenig Tetanus oder eine Blutvergiftung... Was wäre schon dabei gewesen? Beschissener als jetzt, könnte mein Leben eh nicht mehr werden.
Obwohl ich ab und an das brennende Gefühl des Desinfektionsmittels auf meiner Haut fühlte, fühlte es sich für mich eher nur wie ein leichtes Ziepen an.
Innerlich war ich einfach taub.
Ich sah, wie der Arzt im Anschluss meine rechte Hand mit einem elastischen Verband umwickelte, aber eigentlich interessierte es mich nicht.
Mittlerweile hatten auch Crow und Yuusei kurz ihre Köpfe in das Krankenzimmer gesteckt, doch ich ignorierte sie weitestgehend und so gingen sie wohl erst einmal weiter.
Ob sie Martha eigentlich von allem erzählt hatten?
Von dem, was mit Kyousuke passiert war? Von dem, was ich angestellt hatte, wie Jack es so schön formuliert hatte?
Immerhin war Martha ihre Adoptivmutter, aber gerade in dem Alter, in dem wir waren, erzählte man seinen Eltern ja eher selten etwas. Vor allem nicht, wenn es darum ging, dass der beste Freund plötzlich am durchdrehen gewesen war und die Security angegriffen hatte und deswegen im Knast gelandet war.
Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, stumme Tränen formten sich erneut in meinen Augen und ich sah zu Boden.
Mittlerweile war der der Arzt fertig mit meiner Behandlung und ich hörte, dass er mit Martha sprach, doch wirklich zu hörte ich nicht.
Die Bilder von Kyousukes Verhaftung regierten wieder meinen Kopf. Die Sirenen. Sein irres Lachen. Seine Wut. Seine Schreie.
Ich hätte von Anfang an doch bestimmt all das verhindern können!
Aber ich war zu feige gewesen, was zu sagen. Und ich hatte es nicht einmal, als ich ins Gefängnis eingebrochen war, geschafft, ihm zu sagen, was wirklich passiert war, dass Yuusei ihn nicht verraten hatte.
Ich hatte nichts tun können. NICHTS!

Ich spürte, wie ich umarmt wurde.
„Ryoko-chan... I-ich weiß nicht, was genau passiert ist und du musst auch nicht darüber reden, wenn du es nicht möchtest. Ich möchte nur, dass du dir nicht noch einmal so weh tust, hörst du?", hörte ich Marthas sanfte, besorgte Stimme.
Sie war es auch, die mich umarmte.
„Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Die Jungs wollen auch nicht genau drüber reden, aber ich merke, das irgendwas schlimmes passiert ist und ich weiß, dass du Hilfe brauchst. Vor allem solltest du erst einmal etwas essen und trinken. Jack hat mir gesagt, dass du zusammengebrochen bist und er macht sich wirklich Sorgen um dich, mein Kind. Und Yuusei und Crow auch. Du bist immerhin ihre Freundin, Ryoko-chan.", hörte ich Martha sanft sagen.
Freundin.
Ein Teil von mir, wusste, dass Martha Recht hatte.
Doch dieser Teil in mir war so so klein und bedeutungslos.
Der große Teil in mir wusste nicht mehr, ob die Jungs noch meine Freunde waren.
Vielleicht hatten sie auch einfach nur Mitleid mit einer erbärmlichen Kreatur wie mir.
Immerhin war ich wirklich bemitleidenswert. Ein trauriger Schatten meines früheren Selbst.
Die kleine, unschuldige, naive und oftmals etwas forsche und vorlaute Ishida Ryoko war tot.
Gestorben.
Gestorben in jener Nacht, als man ihr die einzige Person genommen hatte, für die sie alles getan hätte.
Zumindest glaubte ich das.
Schlimmer als jetzt, könnte es nicht mehr werden.
Was sollte immerhin noch schlimmer sein, als das Wissen, dass ich Kyousuke nie wieder sehen würde?
Oh, wie hätte ich nur Ahnen können, dass es immer schlimmer geht.

Irgendwie hatte ich erwartet, dass Martha mich auf mein neues „Gesichtstattoo" ansprechen würde. Doch sie fragte nicht danach, was ich getan hatte, dass man mir diese Markierung verpasst hatte.
Sie hielt mich einfach fest, während ich weiter schwieg und meine stummen Tränen langsam wieder zu trocknen begannen.
Nach gefühlt einer Ewigkeit ließ sie mich los. Früher hatten mir ihre Umarmungen Trost gespendet und mich an meine Mutter denken lassen.
Doch gerade fühlte ich selbst bei Martha nur meine eigene, innere Kälte. Ich bezweifelte sogar, dass meine eigene Mutter mir aktuell hätte helfen können, wenn sie noch gelebt hätte.
Ich hatte gar kein Gefühl, für nichts mehr.
Nur noch für den Schmerz in mir, für meine Schuldgefühle, meine Sorgen um Kyousuke und dem Leid, welches er dort in diesem Drecksloch ertragen musste. Meine Emotionen liefen nur noch auf Sparflamme.
„Ich hole dir was zu essen und zu trinken und ich möchte, dass du auch isst und trinkst, ja?", sagte Martha sanft und besorgt zugleich zu mir. Sie hatte wieder diesen besorgt-strengen Blick aufgesetzt und ich nickte nur resignierend.

Ich sah Martha nur kurz nach, als sie das Zimmer verließ. Dann starrte ich auf den Boden.
Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass Jack immer noch im Türrahmen gestanden hatte. Merkte nur anhand des Absenkens der Matratze neben mir, dass Jack sich zu mir gesetzt hatte.
„Wie viel weiß sie?" Es war das erste Mal, seit vielen Minuten des Schweigens, dass ich von mir selbst aus Sprach und etwas fragte. Eigentlich interessierte es mich nicht, doch irgendwie wollte ich es dennoch wissen. Vielleicht war es ein Versuch, mich abzulenken. Ich wusste es nicht.
„Nicht viel", gestand Jack. Er starrte vor sich hin. Genau wie ich. „Wir haben Martha kaum etwas erzählt. Nur, dass Team Satisfaction sich aufgelöst hat, weil es einen Streit gab."
„Verstehe", nuschelte ich.
Das war dann wohl die „Light-Version" von dem, was wirklich passiert war.
Martha wusste also nicht, dass Kyousuke hinter Gittern saß.
Wahrscheinlich war das auch gut so. Am Ende würde sie sich nur darüber aufregen und sich Sorgen um ihre Jungs machen. Mehr, als sie es eh schon tat.
Für einen Moment biss ich mir wieder in meine Unterlippe.
„Das wäre alles nicht passiert! Das wäre alles nicht passiert, wenn ich früher etwas gesagt hätte! Ich war Tag und Nacht bei Kyousuke, aber ich habe nicht einmal das Wort erhoben! Nicht einmal gesagt, dass er einen Gang vielleicht mal runterzufahren sollte, als man noch halbwegs vernünftig mit ihm hatte reden können! Und jetzt!? Jetzt sitzt Kyousuke in diesem stinkenden Loch und muss Höllenqualen erleiden und ICH bin daran Schuld! ICH bin daran Schuld, dass Kyousuke gefangen wurde! ICH bin daran Schuld, dass er nun leidet! ICH! Jetzt ist Kyousuke ganz alleine... und ich.. ohne Kyousuke.. Ohne ihn... Wenn ich Kyousuke doch nur befreien könnte... Wenn er wieder bei mir sein könnte, ich-", platzte es aus mir unter erneuten Tränen heraus und ich schrak auf, als ich Jacks festen Griff an meinen Schultern fühlte und bemerkte, dass er mich zu sich gedreht hatte und mir direkt in die Augen starrte.
„Kiryuu, Kiryuu, Kiryuu! Immer nur Kiryuu! Alles, was ich immer nur aus deinem Mund höre ist sein verdammter Name!", fuhr Jack mich an. „Denkst du auch mal an UNS? Was WIR gerade durchmachen! Denkst du denn allen ernstes, mich lässt es kalt, was passiert ist? Oder dass es Yuusei und Crow kalt lässt?! Du merkst nicht einmal, dass auch andere um dich herum leiden! Alles was du siehst sind dein eigenes Leid und Elend!", fauchte Jack weiter und ich wollte etwas sagen. Mir war danach, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber ich war zu kraftlos, um auch nur meine Hand zu heben. Stattdessen bemerkte ich etwas, was ich an Jack noch nie gesehen hatte.
Tränen. In seinen Augen glitzerten tatsächlich Tränen.
„Ich... Ich wollte mich für immer verkriechen. Ich wollte nach allem nur meine Ruhe und hatte mich für mehrere Tage an einen Ort verzogen, wo ich meine Gedanken sammeln konnte. Dann kamen Yuusei und Crow und erzählten mir, dass du in das Gefängnis eingebrochen bist, um Kiryuu zu sehen und dass du wohl drei Tage im Arrest gesessen hast, aber nun wieder draußen bist. Sie wollten eigentlich mit mir zusammen nach dir sehen, doch ich bin alleine losgelaufen. Alleine zu dem alten Unterschlupf, weil ich... ich... Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, Ryoko!"
Ich starrte ihn immer noch an, als er das gesagt hatte.
Ungläubig.
Fühlte, dass mir mein Mund aufgeklappt war.
Und auch er starrte mich an.
Ich bemerkte, wie er seine rechte Hand hob und wie diese sich meinem Gesicht näherte, als wöllte er sie an meine Wange legen.
Auch sein Gesicht war meinem plötzlich sehr nahe.
Was hatte er vor?
Natürlich ahnte ich unterbewusst, was er wohl vor hatte.
Aber Jack stoppte mitten in seinen Bewegungen.
Stattdessen zog er mich einfach wieder in seine Arme und ich ließ ihn machen. Wenn er das gerade brauchte, dann sollte es mir recht sein.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich getan hätte, wenn er mich in jenem Moment wirklich geküsst hätte. Ob ich ihn geschlagen hätte oder ob ich es resignierend und auch nur ohne einen Tropfen Gefühle für ihn zugelassen hätte, weil mir alles einfach nur noch scheiß egal war. Ohne Kyousuke und ohne die Aussicht, ihm jemals nahe sein zu können, war es mir in dem Moment egal gewesen, was man mit mir machte.
Aber Jack war sich wohl bewusst gewesen, dass es nicht richtig war.

Im Nachhinein war ich ihm aber dankbar.
Dankbar, dass er nicht seinen Impulsen nachgegeben hatte. Dass er meine Situation nicht ausgenutzt hatte, obwohl ich wusste, dass er mich mochte.
Doch Jack war nur ein Freund für mich. Ein Kumpel, mehr nicht.
Auch wenn er durchaus kein hässlicher Kerl war und ein im Grunde, gutes Herz hatte, aber er hätte mir Kyousuke nie ersetzen können.
Kyousuke war der einzige Mann, dem mein Herz schon all die Zeit gehört hatte und immer gehören würde.
So gern ich Jack als platonischen Freund auch hatte, aber er war eben nicht Kyousuke und das wusste er auch.

So verstrichen die Tage. Martha hatte drauf bestanden, dass ich fürs Erste bei ihr bleiben sollte.
Yuusei und Crow hatten tatsächlich für mich das Bild meiner Mutter aus dem Unterschlupf geholt und noch ein paar andere Habseligkeiten, die mal Kyousuke gehört hatten. Auch wenn es nur Kleinigkeiten waren, wie ein paar T-Shirts zum Wechseln. Doch so hatte ich zumindest etwas, was irgendwo immer noch nach ihm roch und mir half, nachts überhaupt zu schlafen.
Martha hatte mir ein eigenes Zimmer gegeben, da einer der älteren Jugendlichen, dem dieses Zimmer zuvor gehört hatte, ausgezogen war. Mein Zimmer lag direkt neben dem von Mariko.
Manchmal kam sie mich besuchen und manchmal besuchte ich sie.
Doch wirklich viel miteinander reden, taten wir nicht. Ich wusste gar nicht, was ich ihr sagen sollte.
Sie war noch viel zu jung für all die schrecklichen Einzelheiten, die die Trennung von Team Satisfaction mit sich gezogen hatte.
Irgendwie lebte ich vor mich hin.
Ich wurde zwar wieder ein klein wenig zugänglicher und aß und trank auch wieder, aber es änderte nichts an meiner Situation.
Nichts an den harten Fakten und der Tatsache, dass mein Leben ein Scherbenhaufen war.
Auch besuchten wir regelmäßig das Gefängnis, in der Hoffnung, dass man uns doch noch zu Kyousuke lassen würde. Aber natürlich war es jedes Mal für die Katz.
Meistens waren es nur Yuusei, Crow und ich. Jack, so hatte ich den Eindruck, verzog sich immer mehr und immer öfters.
Vielleicht konnte er meinen ewig trostlosen Anblick nicht länger ertragen.
Und wie ich immer wieder aufs neue in Tränen ausbrach, wenn der Wachmann vor dem Gefängnistor uns hämisch grinsend abwies. Immer wieder mit anderen Ausreden, warum wir Kyousuke nicht besuchen dürften.
Früher wäre ich wütend geworden und hätte mich mit dem Kerl vermutlich angelegt. Mittlerweile resignierte ich nur noch unter meinen stummen Tränen.
Es war aussichtslos, absolut aussichtslos.

Mittlerweile war der Frühling angebrochen. Yuusei hatte tatsächlich damit begonnen, ein D-Wheel zu bauen und half mir auch dabei, eines für mich mit zu bauen.
Ich hatte erst skeptisch darauf reagiert, obwohl ich ja noch im Kopf hatte, dass Yuusei mir einst ein solches Versprechen gegeben hatte.
Aber was sollte ich jetzt noch mit einem D-Wheel? Ich duellierte mich doch eh nicht mehr. Ohne Team Satisfaction, war mir auch wieder die Lust am Duellieren vergangen. Außerdem hatte man bei meiner kurzen Festnahme eh fast alle meine Karten eingesackt. Nur ein paar wenige waren mit geblieben. Und um mir wieder vierzig Karten zusammenzuklauen oder aus Containern zu klauben, dazu fehlte mir der Elan.
Dennoch ließ ich Yuusei machen. Es war zumindest eine Beschäftigung, wenn ich zusammen ihm, so wie mit Crow und einigen anderen Kindern und Freunden, die Yuusei noch neben den Leuten aus Marthas Haus kannte, an den D-Wheels mitschraubte.
Bisher hatte ich gar nicht gewusst, dass Yuusei noch andere Freunde hatte, neben Jack, Crow und mir und eben Kyousuke.
Aber nun hatte ich auch Rally, Taka und die anderen kennengelernt.
So vergingen weitere Wochen, in denen ich einfach vor mich her lebte und versuchte, zumindest halbwegs mich in den Alltag zu integrieren.
Was blieb mir auch für eine andere Wahl?
Irgendwie fügte ich mich einfach meinem Schicksal.
Irgendwie schaffte ich es, weiter zu existieren.
Doch das war es eben. Ich lebte nicht. Ich existierte.
Und der einzige Gedanke, der mir Hoffnung gab – auch wenn ich tief in mir drin wusste, dass es naiv war – war der Gedanke, dass sie Kyousuke vielleicht doch auch irgendwann gehen lassen würden, wenn sie ihn genug gequält hatten.

Doch diese Hoffnung wurde eines lauen Frühlingsabends genauso zerschlagen, wie der kaputte Spiegel im Badezimmer des alten Unterschlupfs.
Genauso wie das Glas des Spiegels, zersplitterte auch mein Herz vollkommen, an diesem lauen Frühlingsabend.
Yuusei, Crow und ich versuchten mal wieder, Kyousuke zu besuchen.
Doch ich hatte schon am morgen, als ich aufgestanden war, ein seltsames Gefühl. Als würde etwas meine Gedärme zusammenschnüren.
Ich hatte in der Nacht von Kyousuke geträumt und war mal wieder weinend aufgewacht. Doch dieses Mal war es ein seltsamer Traum.
Sonst träumte ich oft von früheren Zeiten, als alles noch gut war oder hatte Alpträume von dem Tag seiner Festnahme.
Doch dieser Traum war... beängstigend anders.

Kyousuke sah mich nicht an.
Er starrte nur zu Boden, ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden.
„Es ist Zeit für mich, zu gehen", hörte ich ihn sagen.
„Gehen? Aber wohin denn?", fragte ich selber und fühlte eine tiefgreifende Angst.
Doch Kyousuke schüttelte nur den Kopf.
„Leb wohl, Ryoko-chan. Es tut mir Leid.", sagte er nur, ohne mich weiter anzusehen.
Und dann drehte er sich um und lief auf die Wand aus Dunkelheit zu, die vor ihm lag.
Eine Dunkelheit wie ein schwarzer Vorhang.
Und ich rief ihm nach. Ich schrie seinen Namen.
Ich wollte ihm nach, aber der Vorhang aus Dunkelheit ließ mich nicht hindurch.


Dann war ich aufgewacht, mit diesem zuschnürenden Gefühl im Magen.
Und dem Gefühl, dass irgendwas passiert war.
Als hätte sich die Welt plötzlich aufgehört zu drehen.
Mir ging es den ganzen morgen und auch den Rest des Tages schlecht.
Ich weinte noch mehr, als ohnehin schon und hatte schließlich Yuusei und Crow gestanden, dass ich Angst hatte.
Dass ich glaubte, Kyousuke wäre irgendwas passiert. Schlimmer noch, als das, was er eh schon tagtäglich ertragen musste.
Sie hatten versucht, mich zu beruhigen und mir versprochen, noch einmal zum Gefängnis zu gehen und zur Not dieses Mal länger zu bohren, um wenigstens mal eine Auskunft zu erhalten, wie es Kyousuke ging, selbst, wenn das bedeuten würde, den Unmut des Wachmanns auf sich zu ziehen.

Und nun standen wir wieder dort, vor dem großen Tor, wo der Wachmann uns mit seinem üblich hämischen Grinsen begrüßte.
„Ach sieh an. Da ist ja meine Lieblings-Rasselbande wieder.", gluckste er vor sich hin. Irgendwie wirkte er heute besonders abartig fröhlich und in mir zog sich erst recht alles zusammen und ich ballte eine Faust.
„Wollt wohl wieder nach eurem Freund fragen, huh?", kam es weiter breit grinsend von ihm.
„Wenn man uns schon nicht zu ihm lässt, wollen wir wenigstens wissen, wie es ihm geht!", kam es direkt von Crow.
„Sagen Sie uns wenigstens das. Ist er... Ist er soweit wohlauf?", fragte Yuusei wesentlich ruhiger als Crow.
Das eh schon breite Grinsen des Wärters verzog sich nun erst recht zu einer hämisch grinsenden Grimasse.
„Ob er wohlauf ist, huh?" Er musterte uns, erst Yuusei, dann Crow und dann mich, mit seinen kleinen Schweinsaugen und grinste noch elendig dreckiger als zuvor. „Oh, ich fürchte, ich muss euch enttäuschen...", fuhr er süffisant fort. „Euer ach so geliebter Freund... Er ist tot."
Ein Satz, wie ein Schuss mitten in mein Herz.
Wie zersplitterndes Glas zersprang mein Herz in seine Einzelteile.
Tot.
Kyousuke war...?
Er war...
Das konnte nicht..
Wie...?
Wie konnte das?!
Warum?
Was... Was war passiert?
WIE war das passiert?
Er war nicht tot!
Er war nicht tot!
Er war nicht tot!
Er war nicht tot!
Er...!
Ich hörte mich selber laut und hysterisch schreien.
Doch mein Geist war starr.
Dunkelheit überkam mich und ich fiel und fiel und fiel.
„RYOKO!"


Satisfy Me!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt