Twenty-second Satisfaction: Ein letzter Hoffnungsschimmer

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„Und, bist du bereit, Ryoko-chan? Morgen ist der große Tag gekommen. Dann werden wir endlich Bezirk M einnehmen und Satellite wird uns gehören!"
Kyousukes Stimme war so voller Elan. Seine hellgrünen Augen leuchteten aufgeregt, wie die eines kleinen Jungen, sein Lächeln schien breiter als je zuvor.
Ich war so froh, so glücklich, ihn so zu sehen. Das wir bald unser Ziel erreicht haben würden!
Das sein Traum bald wahr werden würde, unser Traum!
„Ich bin immer bereit! Team Satisfaction wird es schaffen!", rief ich glücklich.
Doch dann wurde ich nachdenklich. „Aber... was passiert eigentlich, wenn wir Satellite komplett erobert haben?"
Kyousuke sah mich an. Das Strahlen auf seinem Gesicht verschwand. Sein Lächeln wurde schief und zu einem grausigen, irren Lachen.
Das Geräusch von Sirenen ertönte überall.
Leute von der Security kamen, nahmen ihn mit. Ich versuchte zu schreien, aber bekam keine Luft. Alles, was ich hörte, waren seine wütenden Schreie...immer und immer wieder.
Und plötzlich war alles in Schwärze gehüllt und ich fiel und fiel und fiel...

Ruckartig erwachte ich.
Fühlte etwas nasses an meinen Wangen und bemerkte, dass es Tränen waren.
Nur langsam setzte ich mich auf. Mein Kopf schmerzte und mein Körper fühlte sich an, als wäre er betäubt.
Ich starrte auf das Bild meiner Mutter auf dem Tisch.
Das war nur ein Alptraum gewesen. Es war nur ein Alptraum.
Ich redete es mir immer und immer wieder ein. Wollte die Realität einfach nicht wahrhaben.
Wollte nicht, dass das wirklich passiert war.
Und so saß ich auf der Couch und wartete. Wartete darauf, dass Kyousuke zu mir kommen würde, mit einer Packung Melonenbrötchen und einer Dose Limonade.
Ich saß einfach nur da, starrte stur geradeaus. Einfach die blanke Wand vor mir an.
Ab und zu bildete ich mir tatsächlich Schritte ein, aber es kam niemand. Wind drang von draußen herein und gab mir das Gefühl, Stimmen flüstern zu hören.
Aber auch das war nur Einbildung.
Kyousuke kam nicht.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der modrigen Couch saß.
Mein Magen knurrte, aber es kümmerte mich nicht. Meine Lippen fühlten sich trocken an, doch auch das interessierte mich nicht.
Ich saß einfach nur da, still und schweigend, wie eine Porzellanpuppe.
Die Zeit verstrich und es wurde langsam Nachmittag.
Ich hatte mich kein Stück von der Stelle bewegt. Immer noch darauf wartend, dass Kyousuke zurückkehren würde.
Als meine Blase nicht mehr länger mitmachte, ging ich einmal kurz auf die Toilette, aber das war es auch. Danach saß ich wieder da und verharrte an Ort und Stelle.
Fühlte nichts, als elende Kälte und Leere.
Ich ignorierte einfach jedes Gefühl meines Körpers auf Hunger und Durst.
Wollte nichts essen, nichts trinken, nicht einmal schlafen.
Alles, was ich wollte, war, dass Kyousuke zu mir kam, dass er wieder bei mir war, mich umarmte. Ich verfluchte Yuusei und die anderen, obwohl sie nichts dafür konnten, was passiert war.
Aber ich hasste einfach die ganze Welt. Jeden, aber am allermeisten hasste ich mich.
Mein Herz schmerzte immer noch. Fühlte sich an, als hätte jemand seine Hand in meinen Brustkorb gerammt und würde es zerdrücken.
Es tat so weh. So elendig weh....

Ein Geräusch ertönte und ich vernahm Stimmengewirr.
Mir war schwummrig und schlecht vor Hunger.
„R-Ryoko?"
Ich erkannte die Stimme als die, von Crow und blinzelte.
„Bist du in Ordnung?"
Diese Stimme ordnete ich als die von Yuusei ein. Ich musste irgendwann vor Erschöpfung dann doch eingeschlafen sein.
Als ich zum Fenster aufsah, bemerkte ich, dass es draußen bereits am dämmern war.
Nur schwer drehte ich meinen Kopf in Richtung Yuusei und Crow, die vor mir standen und mich besorgt ansahen.
In diesem Moment überkam mich wieder diese Wut. Ich wollte etwas nehmen. Damit nach ihnen werfen. Aber es gab nichts, was ich hätte nehmen können.
„Was wollt ihr hier!?", fauchte ich stattdessen nur. Fühlte, wie ich aufsprang und am ganzen Körper zitterte. „Ich hasse euch! Ich hasse euch!"
Ich taumelte nach hinten, aber Yuusei hielt mich am Arm fest, während Crow mich von hinten stützte, damit ich nicht hinfiel.
„Ryoko! Bitte beruhige dich. Wir haben unser Bestes getan, um Kiryuu zu beschützen!", redete Crow und ließ mich etwas los, nachdem ich wieder halbwegs sicher stand. Ich sackte auf die Couch.
Mir war so schwindlig.

„Du solltest erst einmal etwas essen.", sagte Yuusei ruhig, doch ich schüttelte heftig den Kopf, bis ich mir wieder an diesen griff und Tränen meine Wangen hinab liefen.
„Willst du dich jetzt etwa zu Tode hungern?!", fragte Crow und schien selber immer noch völlig aufgewühlt. „Wir haben echt alles versucht, was ging, verdammt! Denkst du, WIR haben gewollt, dass Kiryuu in den Knast wandert!? Überleg doch mal! Denkst du das wirklich!?" Er schlug mit einer Faust gegen die Wand. „Yuusei macht sich voll die Vorwürfe... und Jack ist irgendwohin abgehauen... Du bist nicht die Einzige, der es scheiße geht!"
Ich starrte Crow an, dann sah ich zu Yuusei, der zur Seite blickte. Langsam senkte ich meinen Kopf und krallte mich mit meinen Fingern in meine Knie, während Tränen auf meine Oberschenkel tropften. „Das ist... Das ist alles meine Schuld! Das ist allein meine Schuld! Ich war die ganze Zeit bei ihm und hab nie irgendwas getan, obwohl ich geahnt habe, dass er... er... Und dann...."
Ich zitterte noch mehr, aber Yuusei legte seine Hände auf meine Schultern. „Es ist nicht deine Schuld, Ryoko. Du konntest nicht wissen, dass er das wirklich tut. Dass er das wirklich durchzieht. Ich habe auch gedacht, dass er sich das alleine oder nur mit dir zusammen nicht traut. Deswegen bin ich ja auch gegangen... Wenn, dann ist das meine Schuld, dass Kiryuu...", nuschelte er.
„Dennoch... ich war die ganze Zeit bei ihm. Tag und Nacht. Ich habe gemerkt, wie er sich verändert hat...", nuschelte ich kraftlos. Immer noch hielt ich den Kopf gesenkt. „Kyousuke war... mein Freund. Meine Familie... Alles, was ich noch gehabt habe. Er war für mich da gewesen und ich wollte für ihn da sein... Jetzt habe ich nichts mehr... und er ist auch allein..."
„Das stimmt nicht. Du hast immer noch uns!", hörte ich Crow sagen. „Du hast noch Yuusei, mich, Jack, wenn der seinen Arsch wieder zu Martha bewegt, die Kinder, mit denen du dich damals angefreundet hast. Du bist nicht allein. Du könntest ja auch bei Martha unterkommen. Und was Kiryuu betrifft..."
Ich schüttelte den Kopf. „Ich will Martha nicht auch noch zur Last fallen. Außerdem ist das hier mein Zuhause... Und... Und..."
Yuusei setzte sich neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Bitte, versuche, erst mal etwas zu essen. Kiryuu würde nicht wollen, dass du wegen ihm hungerst.", sagte er sanft. „Und danach, hab ich überlegt, könnten wir versuchen, zum Gefängnis zu gehen und Kiryuu zu besuchen."
Ich sah leicht auf. „Ihn besuchen?"
Yuusei nickte. „Wenn sie uns reinlassen, aber einen Versuch wäre es wert."
Ich sah ihn lange an und dann auch zu Crow.
„Immerhin sollte er zumindest wissen, dass wir ihn nicht verraten haben.", sagte Crow.
Nur zögerlich griff ich nach der Plastiktüte, die ich auf dem Tisch bemerkte und nahm dort ein paar Sandwiches heraus, die Martha wohl zubereitet hatte.
Auch wenn mir immer noch übel war, aber zumindest hatte ich einen kleinen Hoffnungsschimmer.

Nachdem ich gegessen und auch etwas getrunken hatte, auch wenn es nur etwas abgekochtes Leitungswasser aus einer Plastikflasche gewesen war, stand ich langsam auf.
Ich fühlte mich immer noch schwach, aber zumindest hatte dass Schwindelgefühl etwas nachgelassen.
„Geht's besser?", fragte Crow mich und ich nickte einfach nur. Wirklich Lust auf Reden hatte ich nicht.
Yuusei ging voraus und ich folgte ihm mit Crow im Schlepptau. Warf noch einen letzten Blick über meine Schulter dabei zur Couch. Zu all den Erinnerungen.
Auf dem Weg achtete ich auch gar nicht wirklich auf meine Umgebung. Es interessierte mich schlicht und ergreifend nicht.
Hatte nur diesen Tunnelblick, mit dem ich Yuusei und Crow vor mir beobachtete, damit ich sie nicht aus den Augen verlor. Alles andere blendete ich vollkommen aus.
Kyousuke wieder zu sehen, war eine kleine Hoffnung, aber dennoch brachte es ihn nicht zurück. Er würde für immer hinter Gittern sein. Für immer dort eingesperrt sein.
All seiner Freiheit beraubt, endgültig und komplett.
Er hatte sich immer gewünscht, frei zu sein, aber nun war er noch weiter von der Freiheit entfernt als je zuvor.
Auch wenn ich ihm nie die Freiheit hätte geben können, die er sich gewünscht hatte. Die Befriedung – Ich musste dennoch wehmütig lächeln, bei dem Gedanken an sein Lieblingswort – nach der er sich so gesehnt hatte. Auch wenn ich ihm das nicht hätte geben können, so hatte ich nie gewollt, dass er erst recht allem beraubt wird, was er sich aufgebaut hatte.
Die Schuld, dafür mitverantwortlich zu sein, fraß mich auf.

„Ich glaube, wir sind da.", riss mich Yuuseis Stimme nach einer Weile aus den Gedanken.
Ich sah auf. Einige Meter vor uns stand stand ein großes Eisentor. Dahinter war ein hohes Gebäude zu erkennen. Vor dem Tor stand einer der Security-Männer, der wohl gerade Wachdienst hatte.
Bei seinem bloßen Anblick verspürte ich schon das Bedürfnis, dem Kerl mein Klappmesser in die Kehle zu rammen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, fast automatisch und zitterten. Ich fühlte, wie sich meine Fingernägel in meine Handinnenflächen gruben.
Die Security. Diese verdammte Security! Und auch die Wärter im Gefängnis! Wer wusste, was diese ekelerregenden Typen Kyousuke dort drin alles antaten? Welchem Missbrauch er vermutlich da drin ausgesetzt war?! Mir wurde schlecht, wenn ich nur daran dachte.
„Ganz ruhig, Ryoko.", hörte ich Yuusei sagen, der meine Wut und Angespanntheit wohl bemerkt hatte und ich blickte nur flüchtig zu ihm. Er ging mit Crow schnurstracks auf den Beamten zu. Ich hielt mich im Hintergrund und in jenem Moment keimte eine aberwitzige Idee in mir auf. Vielleicht, aber nur vielleicht, konnte ich, wenn er abgelenkt war...
Natürlich war es verrückt und naiv, was sich da in meinem Kopf zusammenbraute. Die Idee zu einer irrwitzigen Verzweiflungstat, eines kleinen, fünfzehnjährigen Mädchens.
„Was wollt ihr hier?", fragte der Security-Mann, als er uns sah. Allein sein herablassender Blick trieb mir die Galle vor Wut hoch.
Seine Augen waren vor allem scharf auf Yuusei gerichtet. Dieser erhob auch das Wort.
„Wir wollen unseren Freund besuchen."
Der Mann zog eine Augenbraue hoch. „Freund?"
Crow nickte bestätigend. „Kiryuu Kyousuke. Er wurde gestern Nacht hier her gebracht."
Der Security-Fritze grinste hämisch. „Ah. Dieser gewalttätige Bursche, der einen Kollegen schwer verletzt hat. Ihr habt zu seiner Duel-Gang gehört, oder?"
In mir brodelte es, aber ich versuchte, dem Impuls standzuhalten und sah mich um, während der Mann mit Yuusei und Crow sprach. Neben dem großen Tor gab es noch einen Seiteneingang, der mir unbewacht erschien. Wenn ich über das kleine Tor von diesem Klettern würde...

Ich bekam nicht mehr viel mit von dem Gespräch. Nur, dass es eine kurze Diskussion gab und der Mann lauter wurde. Ich verstand so viel, dass der Mann sich weigerte, uns herein zu lassen. Ich hörte noch die Beleidigungen des Mannes von wegen "Satellite-Abschaum" und dass wir verschwinden sollten. Allerdings schien er eher auf Yuusei und Crow fixiert zu sein. Mich schien er eh nicht wirklich auf dem Schirm gehabt zu haben, was mir auch ganz recht war. Ich hatte irgendwo geahnt, trotz des Hoffnungsschimmers, dass es so kommen würde. Das war auch der Grund, warum ich selbst diesen letzten, hoffnungsvollen Versuch startete.

Ich hatte mich mittlerweile komplett zu dem Seiteneingang geschlichen und schaffte es sogar tatsächlich, unbemerkt darüber zu klettern. Zumindest war ich mir recht sicher, dass ich es geschafft hatte. Auf dem Gefängnisgelände hatte ich dennoch alle Hände voll damit zu tun, den Security-Leuten, die dort herumliefen, nicht in die Arme zu laufen. Durch den Haupteingang zu kommen, war ein Ding der Unmöglichkeit und so versuchte ich mein Glück anderweitig, in der Hoffnung, vielleicht einen Hintereingang oder dergleichen zu finden.
Doch das mein Eindringen nicht lange unbemerkt blieb, hätte ich mir eigentlich denken können, als plötzlich der Alarm losging.
Wahrscheinlich hatte mich eine Überwachungskamera gefilmt, obwohl ich mich gerade hinter einer großen Mülltonne versteckt hatte.

Dann ging alles ganz schnell. Ehe ich mich versah, kamen noch mehr Wachleute angerannt.
Ich hechtete aus meinem Versteck hervor und mir wurde klar, dass es kein zurück mehr für mich gab, nur noch den direkten Weg nach vorne. Wenn sie mich einfangen wollten, mussten sie mich erst einmal bekommen und wenn sie mich bekommen sollten, dann wäre Kyousuke wenigstens nicht allein im Knast und auch nicht alleine all den schändlichen Dingen ausgesetzt, die man ihm dort wahrscheinlich antat. Lieber litt ich mit ihm, als ohne ihn! Das war mein neuer Plan!
Ich konnte Crow und Yuusei, die immer noch ein paar Meter vor dem Eingangstor standen, entsetzt meinen Namen rufen hören, als sie mich auf dem Gefängnisgeländer bemerkten, aber es juckte mich nicht.
Ich preschte vor, Richtung Haupteingang. Ein Security-Fritze rannte auf mich zu und ich rutschte geschickt zwischen seinen Beinen hindurch. Es war wirklich vorteilhaft, dass ich so klein und zierlich war.
„Ergreift das Mädchen!", hörte ich einen der Männer brüllen.
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich das alles schaffte, aber irgendwie gelang es mir tatsächlich, mir Zutritt in das Gebäude zu verschaffen. Irgendwie hatte ich die Wachmänner alle abhängen können.
Mal, indem ich ihnen mit meinem Duell-Seil ein Bein stellte, mal in dem ich ihnen geschickt hatte ausweichen können.
Ich war zu flink für diese ganzen Stiernacken - zumindest glaubte ich das.

Ich preschte immer weiter vor und rannte durch die Gänge des Gefängnisses. Was ich natürlich nicht bedacht hatte, bei meinem ach so tollen Plan war, in welcher Zelle und welchem Trakt Kyousuke einsaß. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er im Hochsicherheitstrakt war. Er war immerhin kein Serienmörder! Aber vielleicht kam man für gefährliche Körperverletzung auch dorthin?
Ich wusste es nicht.
Ich lief immer weiter und versteckte mich hier und da in dunklen Gängen, vor herumlaufenden Gefängniswachen.
In einem Gang blieb ich stehen und belauschte zwei Wärter bei einem Gespräch.
„Ein paar nette Karten hat der Bursche ja dabei gehabt.", sagte einer.
„In der Tat. Und wie er geschrien hat, als man sie ihm abgenommen hat.", sagte der andere und lachte so dreckig, dass ich am liebsten aus meinem Versteck gekommen wäre, um ihm aufs Maul zu hauen. „Typisch Satellite-Abschaum. Die klammern sich so sehr an ihre kleinen Kärtchen, als wäre es pures Gold.", hörte ich ihn weiter sagen und knurrte innerlich.
„Nicht wahr? Wette, der Chef der Security-Einheit wird eine fette Gehaltserhöhung bekommen, dafür, dass er den Burschen hat endlich dingfest machen und Einbuchten hat lassen können. Dieses Team Satisfaction war ihm schon lange ein Dorn im Auge."
Ich schluckte. Sie sprachen tatsächlich über Kyousuke! Aber vielleicht konnte ich so herausfinden, in welchem Trakt Kyousuke war.
Ich hörte den anderen Wärter wieder dreckig lachen und verkrampfte nur noch mehr vor Wut.
„Das denke ich mir auch, aber ist ja auch gut für uns. Wir werden noch sehr viel ‚Spaß' mit dem Burschen haben. Jetzt kann er so viel ‚Befriedigung' bekommen wie er will.", hörte ich ihn sagen und mir wurde bei den Betonungen der Worte „Spaß" und „Befriedung" speiübel. Ich wollte wirklich nicht wissen, was man Kyousuke hier antat!
Ich musste ihn hier raus holen! Er musste von hier weg! Sofort!
Kurz hielt ich mir eine Hand vor den Mund und spürte Tränen in den Augen, die ich mir jedoch schnell wieder weg wischte.
Ich musste stark sein! Für Kyousuke!
Ich hörte die zwei Wachmänner noch dreckig lachen. Dann jedoch...
„Ich muss nach meiner Pause dann zurück zu Block D, ist bald ja Abendessenszeit. Außerdem will ich unserem Neuankömmling nochmal ‚Hallo' sagen", hörte ich den einen Wärter dann sagen und innerlich applaudierte etwas in mir.
Block D! Das musste der Trakt sein, in dem Kyousuke gefangen war!

Ich wartete noch eine Weile, bis die zwei Wärter weitergegangen waren und schlich mich dann aus dem Gang heraus und weiter durch das Gebäude. Ich versuchte dabei weiterhin auch, anderen Wärtern und eventuellen Sicherheitskameras aus dem Weg zu gehen und fühlte mich dabei wie bei „Mission Impossible". Fehlte nur noch die Musik.
Irgendwie schaffte ich es wirklich, ohne entdeckt zu werden, bis zu Block D.
Den Wärter, der den Block bewachte, während der andere wohl noch seiner Pause abging, lenkte ich ab, in dem ich nach einem leeren Putzeimer griff, der in der Ecke stand, in die ich mich gestellt hatte und diesen in eine Ecke, weiter weg von mir kickte und dieser scheppernd gegen eine Wand krachte.
Das Geräusch ließ den Wärter aufhorchen.
„Was ist da los? Macht da wieder einer Ärger?", fragte er in den Gang und lief zu der Quelle des Geräusches, ohne mich dabei zu bemerken. Glück für mich!

Vorsichtig, damit ich nicht zu laut war, lief ich durch Block D.
Links und rechts von mir, standen die Zellen und ich konnte sehen, wie einige Gefangene durch die Gitter zu mir starrten.
Manche von den Kerlen pfiffen mir nach oder riefen mir unangebrachte Sachen zu oder dass ich mal zu ihnen kommen sollte und was ein „Süßes, kleines Mädchen", wie ich hier zu suchen hatte.
Doch ich ignorierte die Typen. Allerdings war Block D riesig und so entschied ich mich, doch zu einer der Zellen zu gehen und blickte überrascht auf, als ich den Typen erkannte, der dort gefangen war.
Es war der Anführer der Punker-Gang, denen wir schon zweimal begegnet waren. Ganz früher am Strand und dann, als wir die Karte von Ichigo von dieser Gang zurückgeholt hatten.
Diese Erinnerungen lagen so fern zurück...
Dass der nun auch einsaß, war wohl Schicksal.
Der Kerl erstarrte auch, als er mich erkannte und kam auf die Gitter zu und hielt sich an den Gitterstangen fest.
„Du... Du bist doch die Rotzgöre von Team Satisfaction! Oh... Willst du etwa deinen Freund besuchen?", sagte er und grinste schief. „Hab gehört, wie sie ihm gestern die ‚Neulings-Behandlung' verpasst haben. Hat sich angehört wie ein Schwein beim Schlachter, euer toller ‚Boss'"
Ich starrte ihn hasserfüllt an. Mein rechtes Auge zuckte und ich griff durch die Gitterstäbe nach dem Kragen seines dunkelblauen Gefängnis-Overalls und zog den Kerl näher ans Gitter, so dass er keuchte.
„Dann hoffe ich, dass du auch so eine ‚Neulings-Begrüßung' bekommen hast!", zischte ich leise „Sag mir, in welcher Zelle Kiryuu Kyousuke ist... wenn nicht...." Mit einer Hand zog ich das Klappmesser hervor, das ich mir für jetzt in die Hosentasche gesteckt hatte, um es schneller ziehen zu können und hielt es ihm vor die Nase. „Bekommst du von mir die ‚Ishida Ryoko-Begrüßung'!"
Der Kerl schluckte für einen Moment.
„Schlampe!", knurrte er und schaffte es, meine nun einzelne Hand von seinem Kragen zu entfernen.
Er grummelte aber nickte dann zu einer Zelle ganz am Ende des Ganges.
„Dort drüben ist er. Aber keine Ahnung, ob er gerade ansprechbar ist. Die Wärter haben ihn vor ihrer Mittagspause nochmal ordentlich vermöbelt.", gab er zur Antwort und ich steckte mein Klappmesser weg.
„Das war die richtige Antwort", sagte ich kühl und ging von der Zelle des Punker-Gang Anführers Weg und eilig in Richtung der Zelle, die er mir genannt hatte.

Ich hoffte inständig, dass Kyousuke ansprechbar war!
Als ich die Zelle erreicht hatte, sah ich auf.
Tränen überfluteten sofort mein Gesicht, beim Anblick, der sich mir bot.
Kyousuke saß da in seinem ausgefransten, blauen Gefängnis-Overall in seiner Zelle, an der Wand gelehnt, den Kopf gesenkt und voller blauer Flecken.
Seine Haare wirkten dünn und glanzlos. Man hatte ihm nicht nur sein Deck abgenommen, sondern auch sein violettes Bandana, was er immer getragen hatte. Man hatte ihm alles genommen.
Einfach alles.
Sein Deck, sein Markenzeichen und seine Würde.
Stattdessen zierte nun ein gelber Criminal Marker die rechte Seite seines Gesichts und zog sich von seinem Haaransatz mit einer leichten „Kurve" drin bis hinab zur Wange und dem Kieferansatz.
Ich konnte mir vorstellen, wie schmerzhaft diese Prozedur für ihn gewesen sein musste.
Ich selber hatte ja auch mal einen Criminal Marker bekommen. Allerdings waren das nur zwei kleine, gelbe Punkte, die mir in das Fleisch meiner linken Wange gelasert worden waren, aber selbst das waren schon höllische Schmerzen gewesen. Wie schlimm waren die Schmerzen dann erst bei solch einem großer Criminal Marker?
Ich wollte es mir nicht ausmalen.
„Kyousuke!", rief ich unter Tränen. „Kyousuke! Ich bins!"
Ich konnte sehen, wie Kyousuke seinen Kopf hob und mich für einen Moment ungläubig anstarrte.
Seine Augen wirkten leer und schon fast wie die eines Toten. Der einstige Glanz darin war verschwunden.
„R-Ryoko...?", stammelte er erschöpft und ungläubig zugleich und ich sah, wie er sich abmühte, aufzustehen und zum Gitter zu gehen. „Was... Was machst du hier?"
„Ich... Ich wollte dich sehen! Ich will dich hier rausholen!", rief ich direkt und unter Tränen und griff mit einer Hand durch das Gitter, um sein Gesicht zu berühren, doch Kyousuke blieb in einer Entfernung vom Gitter stehen, die es mir unmöglich machte, ihn zu erreichen.
„Mich rausholen? Nachdem ihr mich hier reingebracht habt?! Nachdem Yuusei mich hier reingebracht hat?! Weißt du, was diese Typen hier mit einem machen, Ryoko?! Weißt du das?! Ich ertrage alles... alles, aber dass sie mir mein Deck... Und Yuusei ist an allem Schuld! Wo ist er?! Wo ist dieser elendige Verräter?! Ist er auch hier?!", kam es von Kyousuke erst ruhig, aber seine Worte arteten immer mehr in ein Schreien aus und ich stolperte unter Tränen zurück, während Kyousuke mich wie ein gefangenes Raubtier anfunkelte.
„K-Kyousuke... n-nein.. ich... Y-Yuusei... i-ist n-nicht... nicht h-hier...", stammelte ich. „A-Aber ICH bin hier! Weil ICH dich brauche! Ich will bei DIR sein, hörst du, Kyousuke! Bei DIR! Weil DU mir wichtig bist!", rief ich verzweifelt und Kyousuke starrte mich weiter an. Für einen Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck von wütend zu etwas, was ich nicht definieren konnte. War es Traurigkeit? Angst?
„Ryoko... Du.. ... Ich...", begann er langsam und kam doch dem Gitter näher und legte seine linke Hand an eine der Stangen.
Auch ich trat zaghaft wieder näher und legte meine Hand auf seine.
Unsere vorerst letzte Berührung für die nächsten zweieinhalb Jahre.
„Ich... Ich werde Yuusei bezahlen lassen...", knurrte Kyousuke und sah zu Boden, aber dann zu mir.
„Aber du, Ryoko, du... solltest..."
Ich schüttelte unter Tränen den Kopf. Wollte ihm sagen, dass alles ein Missverständnis war. Wollte ihm sagen, dass es nie Yuuseis Absicht war, ihn zu verraten. Im Gegenteil. Yuusei hatte ihn und uns beschützen wollen.
„Kyousuke, das... das ist alles ein-", begann ich, aber in diesem Moment erklang erneut ein Alarm und ich schrak zusammen, als eine Durchsage ertönte.

„Eindringling in Block D! Eindringling in Block D! Ein circa fünfzehnjähriges, weibliches Individuum ist unautorisiert bis zu Block D vorgedrungen! An alle Einheiten! Schnappt euch den Eindringling. Der Eindringling ist bewaffnet und hat vermutlich vor, einen der Gefangenen zu befreien!"

Mir wurde flau im Magen. Ich wurde bemerkt!
Es war abzusehen, aber..
Kyousuke ließ meine Hand los. „LAUF! RYOKO, LAUF!", brüllte er mich an.
„ABER...!", entkam es mir. „I-ich geh nicht! Nicht ohne dich!", rief ich unter Tränen, als auch schon gefühlt ein Dutzend Wärter in meine Richtung gerannt kamen.
Aber ich blieb vor der Zelle stehen, krallte mich an den Stangen fest.
„Lieber bin ich gefangen und bei dir, als ohne dich zu sein!", schrie ich verzweifelt.
„Ryoko! Sei keine Idiotin!", kam es auch verzweifelt von Kyousuke und ich spürte, wie ich links und rechts unter den Armen gepackt wurde.
„Zeit, Julia von ihrem Romeo zu trennen! ", knurrte mir einer der Wärter ins Ohr.
„Ganz schön mutig, Fräulein! Aber dein Ausflug endet hier. Dachtet wohl, ihr könntet einen Bonnie und Clyde machen, was?", knurrte der andere Wärter und beide zogen mich grob mit sich.
„KYOUSUKE!",schrie ich weiter und zappelte mit den Beinen, doch es brachte nichts. „KYOUSUKE! ICH RETTE DICH! Ich... Ich... ICH LIEBE DICH!", platze es unter Tränen aus mir heraus, während ich von den Wärtern weggeschleift wurde. Ich hatte ihm gesagt, was ich fühlte. Zum zweiten Mal und wieder war es im Grunde sinnlos gewesen. Doch bei meinem ersten Liebesgeständnis war er einfach nur eingeschlafen und hatte nicht in einer Zelle gesessen.
Ich weiß nicht, ob er es dieses Mal gehört hatte.
Bemerkte nur seinen Blick, der eine Mischung aus Verzweiflung und Schock war.
Ich konnte Kyousuke verzweifelt gegen das Gitter seiner Zelle hämmern hören. Ich konnte hören, wie er immer wieder meinen Namen brüllte, bis einer, der dort verbliebenen Wärter seine Zelle öffnete und ihm brutal in den Magen schlug, damit er wohl Ruhe gab.
Ich weinte. Ich schrie.
Den ganzen Weg entlang. Wohin auch immer mich die Wärter bringen würden.
Was auch immer nun mit mir passieren würde.
Nichts war so schlimm und so fürchterlich wie der Schmerz, erneut von Kyousuke getrennt worden zu sein.
Und das ekelerregende Wissen, was für Grausamkeiten er noch erdulden musste.
Ich konnte nicht ahnen, dass bald eine noch viel schlimmere Nachricht mein Leben noch mehr aus der Bahn werfen würde, als ohnehin schon...


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