15.12.2089
8:00 Uhr
Erschöpft strecke ich mich und gähne. Ich habe eher schlecht geschlafen, aber besser als überhaupt nicht, nach dem, was gestern passiert ist. Ein paar Male habe ich Dan murmeln hören, doch nun liegt er nur noch da und schläft. Ich wette, ich sehe aus wie ein Halbblut-Zombie mit meinen riesigen Augenringen, doch wer tut das nicht?
Müde schlüpfe ich aus dem Zelteingang und gähne einmal lautstark. Als ich die Augen wieder aufmache, sehe ich nur noch viele verlassene, zusammengesackte und zerrissene Zelte; Decken, die zusammengekrümelt auf dem Boden liegen, und zerbrochene Stöcke. Überall liegt geronnenes Blut.
Ungefähr so etwas habe ich erwartet. Aber die Spur der Verwüstung, die das Hunderudel hinterlassen hatte, ist weitaus größer: Viele Menschen, mit denen ich mich gestern noch unterhalten habe, sind verletzt, viele sogar tot.
Ich mache mich daran, die Zelte, in die wir die 12 Kranken gebracht haben, zu besuchen und mir mit Mom die Wunden anzuschauen. Viele wurden gebissen oder haben Schnittwunden, und bei manchen hat sich die Wunde entzündet. Doch was mir besonders auffällt, ist, dass alle, die scheinbar durch die Hunde verletzt wurden, hohes Fieber und Fieberkrämpfe haben. Auch die, die nur kleine Kratzer abbekommen haben, liegen nun fiebernd auf einer kalten Matte. Wir haben nicht genug Decken, um alle Kranken damit versorgen zu können, doch nach einigem Suchen finden wir in verlassenen Zelten ein paar Bekleidungsstücke, mit denen wir notgedrungen die Schwerstkranken bedecken. Auch Dan hat aufgrund seiner großen Wunden sehr hohes Fieber. Was hätte ich für ein herkömmliches Fieberthermometer gegeben! Besorgt setze ich mich neben Dan. Er wälzt sich im Schlaf hin und her und seine Decke, die uns Riley geliehen hat, ist schweißnass. Leider kann ich sie nicht gegen eine andere Decke umtauschen, daher begnüge ich mich damit, ab und zu mit der Spitze meines zerrissenen Shirts seine Stirn trockenzuwischen.
12:00 Uhr
Vollkommen erschöpft sitze ich im Kreis mit allen, die nicht krank sind: Nathan, Cameron, Ryan und Riley, die freundlichen Jungs von gestern. Meine Mom, die tatkräftig mit der Versorgung der Kranken geholfen hatte, und die Familie Smith: der sich um seine Kinder kümmernde Vater Rick, und seine beiden süßen Kinder Anjelo und MacKenzie. Anjelo ist, wie uns Rick erklärt, sieben, und MacKenzie sechs Jahre alt. Beide spielen sehr gerne zusammen. Nach unserem kümmerlichen Essen, welches aus ein paar Krümeln Brot von Cameron besteht, beschließt Nathan, dass er mit seinen Jungs in den Wald gehen und dort nach etwas zu essen suchen, während wir uns ein wenig ausruhen können und dabei auch auf die Kranken aufpassen. Also legen Mom und ich mich in unser Zelt, während Rick eine Runde bei den Kranken vorbeischaut.
Verträumt schaue ich in den Himmel. Heute vor ein paar Wochen läge ich hier entspannt, in den wolkenlosen, blauen Himmel schauend, und mein einzigstes Problem wäre, wie ich den süßesten Jungen unserer Schule ansprechen sollte. Doch jetzt liege ich hier neben Schwerstkranken mit überhohem Fieber, und der Himmel ist wegen schwarzer Wolken nicht einmal sichtbar. Zumidest das Jungsproblem hat sich inzwischen gelöst... Ein verrückter Gedanke kommt mir: Vielleicht fragt Dan mich bald, ob ich ihn heiraten will! Aber dann verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Der ist hier ungefähr genauso fehl am Platz wie Pferdeäpfel in der Obstabteilung...Und wieder einmal staune ich über meinen nicht vorhandenen Humor.
Plötzlich höre ich draußen die Jungs zurückkommen. Neugierig stecke ich meinen Kopf aus dem Zelt. "Endlich seid ihr zurück! Ich dachte, ich verhunger gleich! Habt ihr was gefunden?" Doch dann bemerke ich, dass die Jungs mit etwas ganz anderem beschäftigt sind - oder besser, mit jemandem: ein Mädchen! Sie hat zerschlissene Klamotten an - ein schmutziges braun, was früher vielleicht einmal rosa oder rot gewesen ist. Ihre langen braunen Haare sind zerstrubbelt und hängen ihr bis zu den Knien. Sie sieht am Ende aus: sie ist klapperdürr und zittert. Langsam lassen Nathan und Cameron sie auf den Boden und sprechen ihr beruhigend zu. Dann holt Nathan ein Stück Brot und gibt es der Kleinen. Hastig isst sie das Brot. Dann schaut sie sich verängstigt in der Menge, die sich nun versammelt hatte, um. Als sie mich sieht, passiert etwas gruseliges: Auf einmal wird sie wunderschön; sie hat ein Kleid an, das wie aus Wasser aussieht, ihre Haare sind glänzend und sie sieht mich wissend an. Lachen dreht sie sich einmal im Kreis und zwinkert mir dann zu. Ich fühle eine Verbundenheit mit ihr, und will am Liebsten auf sie zurennen und sie umarmen wie eine kleine Schwester. Und dann schaut sie sich weiter in der Menge um. Höchst irritiert blicke ich mich um. Keiner verzieht die Miene - habe ich mir das gerade eingebildet? Das kann nicht sein. Denn ich kenne dieses Mädchen. Nur, woher?
14:00 Uhr
Ich schaue noch einmal nach den Kranken. Einigen von ihnen geht es jetzt schon deutlich besser; ihr Fieber ist auf fast normale Körpertemperatur gesunken und sie können mit mir kommunizieren. Die Jungs haben vorhin ein paar Beeren für die Kranken mitgenommen, von denen sie dachten, dass sie sie kennen und die gut gegen Krankheiten sind. Diese gebe ich nun denen, die es ohne Erstickungsgefahr schlucken können. Dan ist leider immer noch schwer krank. Für ihn kann ich nichts tun, außer ein paar mal die "Decken" auszutauschen.
Dann beschließe ich, mit Nathan, Cameron, Ryan und Riley nochmals in den Wald zu gehen, da sie ja vorhin nichts mehr suchen konnten, nachdem sie das Mädchen gefunden hatten. Vorsichtig mache ich die ersten Schritte in den Wald. Früher war ich hier ab und zu spielen, wenn wir hier Verwandte besucht haben. Allerdings kommt mir der Wald jetzt viel größer und unheimlicher vor, was vielleicht auch daran liegt, dass wir jetzt im Dunklen herumtappen und keine Lampen haben. So gesehen ist es natürlich schwer, Essen zu finden, doch nach einiger Zeit gewöhnen sich die Augen ein wenig an das spärliche Licht der manchmal durchzuckenden, grünen Blitze und man kann einige Umrisse erkennen. Ich sammele Pilze in meinem Rucksack, die wir auf einem Lagerfeuer rösten können. Wenn wir doch nur Wasser hätten! Das wäre schön, dann könnten wir eine Pilzsuppe kochen! Geh noch ein Stück geradeaus und du wirst Wasser finden! Was war das? Das habe gerade nicht ich gedacht oder gesagt! Aber trotzdem war es in meinem Kopf. Merkwürdig. Ich fange an, zu zittern. Um mich herum höre ich komische Geräusche; ab und zu eine Eule, ich höre Zweige knacksen, Stämme knarzen, Insekten zirpen, fliegen, oder sonstige Geräusche abgeben. Ich höre den Wind, der leise durch den Wald jagt und dabei die Blätter rascheln lässt. Soll ich wirklich noch weitergehen? Jetzt finde ich den Weg nach draußen noch, aber wer weiß, ob ich es weiter drinnen noch schaffe? Aber andererseits, ohne Wasser werden alle über kurz oder lang (bei uns eher kurz) verdursten. Verängstigt folge ich der Stimme oder was auch immer das sein sollte und laufe noch ein Stück weiter. Und tatsächlich! Nach einiger Zeit falle ich fast in ein grubenähnliches Loch. Gerade noch rechzeitig kann ich mich abfangen und stecke probehalber einen Zweig in das Loch. Ich höre Wasser. "Leute! Kommt schnell her! Ich hab Wasser gefunden!"
18:00 Uhr
Wir singen wieder. Wenn auch weder schön noch richtig, wir singen. Und das hat gute Gründe: Nachdem wir vorhin alle Behälter, seien es Wasserkanister oder Flaschen, mit viel Hin- und Hergerenne mit Wasser gefüllt hatten, können wir jetzt eine Pilzsuppe kochen und mit den Beeren, die wir noch übrig haben, würzen. Jetzt fehlt nur noch ein Marshmallowbaum, dessen Früchte wir dann noch rösten könnten, und ich würde mich wie in einem Abenteuercamp fühlen. Nur unteren düstereren Bedingungen als normal. Doch heute Abend, nehme ich mir vor, genieße ich einfach die Sorgenlosigkeit, die ich sonst selten bekomme.
Nachdem wir satt, zufrieden und vom Singen heiser sind, bleiben wir noch eine ziemliche Weile draußen und genießen einfach das Zusammensein. Wir erzählen uns Witze und Anekdoten, gratulieren uns dafür, dass wir bis jetzt durchgehalten haben, und spielen ein paar Runden Poker, da Nathans Jungs Karten mitgenommen hatten. Das Mädchen schläft bereits, und Nathan trägt sie in sein Zelt, damit sie in Ruhe weiterschlafen kann. Ich rätsele immer noch, woher ich denn dieses Mädchen kenne, doch ich komme nicht darauf. Müde und benebelt von Glücksgefühlen lege ich mich schließlich in mein Zelt und schlafen ein.
22:00 Uhr
...ein Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt. Sie hat braune Haare und sieht auch sonst ganz normal aus. Sie schaut auf, und als sie mich erblickt, steht sie langsam auf. Sie kommt mir entgegen, und als sie schon fast bei mir ist, fällt mir etwas auf. Sie hat einen ungewöhnlich erwachsenen Blick. Ihre Augen haben gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen. Ihr Körper hat etwas ertragen, was sie nicht hätte ertragen müssen. Sie hatte etwas erlebt, was sie nicht hätte erleben sollen.
Wir schauen uns nur an. Nach einiger Zeit - unmöglich zu sagen, ob es eine Stunde war oder zehn Sekunden - lächelt sie zuversichtlich und es wird wieder dunkel...
Ich schrecke auf. Daher kenne ich das Mädchen! Sie kam in meinen Träumen vor, als ich bewusstlos war! Ariah. So heißt das Mädchen also.
Als ich ihren Namen denke, übermannt mich ein schönes Gefühl und ich schlafe beruhigt wieder ein.
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Black Cloud
Science Fiction2089- ein Jahr der Katastrophen.Anfangs nur eine Wolke ,doch es wird immer schlimmer-es folgen unzählige weitere Schicksalschläge. New York muss zusammenhalten, um sie zu bestehen - und dazu kommt noch Amys neue Liebe!