Der Dreizehnte Tag - Veränderungen

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Der dreizehnte Tag

12.12.2089

4:00 Uhr

Dunkelheit. Schwärze. Nichts.

Dann.

Ein Licht. Klein, vielleicht so klein wie ein Insekt. Klein und weiß, beruhigend und irgendwie gleichzeitig unpassend.

Es fliegt durch die Luft, als ob es mir etwas zeigen will.

Hin. Und her.

Vor. Und zurück.

Ein Gefühl sagt mir, dass ich aufstehen und ihm folgen soll.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen.

Rechts - Links - Rechts - Links. Und ja nicht hinfallen.

Immer dem Licht hinterher.

Auf einmal stoppt es. Ich bleibe ebenfalls stehen. Gucke mich um.

Um mich herum ist alles schwarz. Nicht mal den Boden kann man sehen. Ich hebe meine Hand, aber auch sie ist nicht sichtbar.

Als ich wieder nach vorne schaue, ist das Licht verschwunden.

Erschrocken atme ich ein.

Wo bin ich? Was mache ich hier?

Ein Stich. Im Herz. Und er wandert immer weiter, den Rücken hinunter, die Beine entlang bis zu den Füßen, den Hals hinauf bis zum Kopf. Dort wird der Schmerz unerträglich. Ich bestehe aus Schmerz, er schnürt mir die Kehle zu, sodass ich nicht mehr atmen kann. Panisch haue ich um mich, ich kratze mein letztes bisschen Luft zusammen und schreie sie aus.

Der Schmerz scheint zu explodieren. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, kann ihn nicht mehr kontrollieren. Irgendetwas übernimmt die Kontrolle über meinen Körper. Lässt ihn stillstehen.

Dann merke ich, dass es nicht mehr dunkel ist. Ich erkenne eine grüne, saftige Wiese mit einem kristallklaren Fluss, der sich durch das Gras schlängelt. Auf der Wiese spielt ein kleiner Junge mit seinem Vater. Lachend drehen sie sich im Kreis, halten sich in den Armen und spingen herum. Der Vater sieht aus wie 30, der Sohn wie 3.

Marvin. Dad. Kein Zweifel.

Ich will sie rufen, aber meine Stimme versagt. Ich will zu ihnen laufen und mit ihnen spielen, aber ich kann meinen Körper nicht mehr kontrollieren. Verzweifelt ringe ich um meinen Körper, aber es ist zu spät. Sie sind weg.

Dann ist es wieder dunkel.

12:00 Uhr

"Amy, wach auf! Wir müssen weiter!"

Benommen reibe ich mir die Augen.Was war das gerade? Ein Traum?

Dazu war es zu real, zu intensiv. Aber was denn sonst? Etwa...eine Vision? Was sollte das bedeuten?

Gedankenverloren rappele ich mich auf. Ich bemerke nicht einmal meinen leeren Bauch, geschweige denn meine Müdigkeit. Erst, als ich meinen ersten Schritt versuche und dabei so stark wanke, dass ich fast umgefallen wäre, fällt mir mein Zustand auf. Zerrissene und vollkommen verdreckte Kleidung, ein zerschlissener Rucksack in der Hand, der mir so schwer vorkommt, als hätte ich eine Horde Elefanten eingepackt. Mager, durstig, erschöpft.

Der schwächste Moment meines Lebens.

Aber ich fühle mich wunderbar. Irgendwie erleichtert, vielleicht durch den Glauben, Marvin und Dad seien jetzt glücklich miteinander. Etwas in mir lässt mich frei sein von der Trauer beider Tode, sowohl den plötzlichen Tod von Dad wie auch den schleichenden, dennoch überaschenden Tod von Marvin.

Es ist immer noch dunkel, wie schon seit etlichen Tagen.  Schon so lange, dass ich mich gar nicht mehr an das letzte Mal erinnern kann, wo ich die Sonne gesehen habe.

Aber jetzt ist es scheinbar noch dunkler als davor. Warum?

Die Straßenlampen sind ausgegangen! Scheinbar haben wir keinen Strom mehr!

Auch das noch!

Ich sehe nur noch unscharfe Konturen,rechts ein Haus, links ein Auto. Mehr nicht. Wenn jetzt jemand zehn Meter vor mir stehen würde, würde ich ihn einfach übersehen.

Also schalten wir eine Taschenlampe aus Mums Rocksack an.

"Macht sie aber nur an, wenn es wirklich nötig ist, okay?" - "Ja, Mum, das ist mir schon klar...", erwidere ich mit rollenden Augen.

Langsam tapsen wir Schritt für Schritt weiter in die Richtung, in der wir unser Ziel vermuten. Ab und zu pulsiert die Wolke, dadurch sehen wir für kurze Zeit unseren Weg und korrigieren uns gelegentlich.

Alles verläuft ohne irgendwelche Zwischenfälle. Alles gut.

Bis auf einmal der Boden anfängt zu wackeln. Ein Erdbeben! Schon wieder!

Instinktiv lege ich mich auf den Boden und schütze meinen Kopf. Mum und Dan liegen neben mir, um uns herum bemerke ich auf einmal viele andere Menschen, die, wie wir, auf dem Boden kauern. Merkwürdig - vorhin habe ich doch fast nichts gesehen, wie kommt es, dass ich auf einmal ihre vor Angst weit geöffneten Augen und ihre sich aus Panik schnell hebenden und senkenden Brustkörper sehen kann?

Ich riskiere einen Blick nach oben - und halte den Atem an. Die Wolke pulsiert unglaublich schnell, man könnte fast sagen, sie ist grün geworden. Hat sie etwa etwas mit dem Erdbeben zu tun?

Auf einmal blitzt es zehn Meter vor uns. Ich muss meine Augen krampfhaft zumachen, um zu verhindern, dass Schlimmeres durch das gleißende Licht passiert. Die Menschen schreien, auch ich.Dann betäubt der unglaublich starke Donner meine Ohren.

Als ich nichts mehr höre, öffne ich vorsichtig meine Augen.

Die Wolke ist wieder schwarz geworden, wie normal. Aber jetzt ist dort, wo gerade eben der Blitz eingeschlagen hat, eine Wand aus Wolken. Man sieht nicht anderes mehr als die Wolke. Als ich nach oben schaue, bemerke ich, dass sie zusammenhängt, die schwarze Wolke, die im Himmel über uns schwebte, und die Wolkenwand. Langsam gehe ich auf sie zu. Beleuchte sie mit der Taschenlampe. Betrachte sie ganz genau.

Ich will die Wolke anfassen, aber bevor ich dazu komme, kicke ich aus Versehen einen Stein in die Wand.

Ein Licht leuchtet dort auf, wo ich ihn hineingekickt habe. Ich zwinge mich, die Augen offen zu halten, und schaue, was passiert. An dieser Stelle leuchtet jetzt ein blaues Licht, das nicht mehr weggeht. Es bleibt.

Und ich ändere meine Meinung. Ich fasse die Wand nicht an.

Stattdessen leuchte ich rechts entlang der Wand. Sie scheint unendlich weiterzugehen. Links ebenso.

Erschrocke weiten sich meine Augen, als ich darauf komme, was das bedeutet - wir kommen nicht mehr zu den Schiffen! Was sollen wir tun?

Verzweifelt renne ich an der Wand entlang, auf der Suche nach irgendeinem Loch oder einer Lücke, wo wir durchschlüpfen könnten. Mum und Dan folgen mir, aber ich ignoriere ihre Schreie.

Ich renne immer weiter, getrieben von meinem Leid, meinem Hunger und meiner verzeifelten, jämmerlichen Hoffnung.

Doch je länger ich renne, desto kleiner wird sie. Ich achte nicht mehr darauf, wo ich hinrenne, meine Füße tragen mich einfach immer weiter der Wand entlang.

Bis ich erschöpft zusammenbreche. Dan fängt mich auf, sodass ich nicht direkt auf den Weg falle. Dann gleite ich erneut in ein schwarzes, unendliches Nichts.

Black CloudWhere stories live. Discover now