Der Direktor

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Nur wenige Tage nachdem ich die Zusage für den Ausbildungsplatz erhalten hatte, zog ich bereits in den Schwarzwald. Zum Glück. Die Stimmung zu Hause wurde immer schlimmer. Wir stritten uns jeden Tag. Meine Mutter wollte mich nur noch raus haben und meine Schwestern waren die größten Zicken, die man sich nur vorstellen kann. Es waren die schlimmsten Tage, die ich jemals erlebt hatte. Als ich abfuhr, schwor ich mir, nie wieder zurückzukehren. Nie wieder!

Als ich anfing zu arbeiten, hatte das Ausbildungsjahr längst begonnen. Deshalb war im Personalhaus, in dem normalerweise alle Auszubildenden untergebracht wurden, kein Zimmer mehr frei. Das einzige verfügbare Zimmer befand sich im Haus des Direktors.

Das Zimmer war winzig, ausgestattet mit nicht viel mehr als einem Bett und einem Kleiderschrank. Es lag direkt neben der Küche in dem alten Bauernhaus, das der Direktor bewohnte. Sein Hotel, in dem ich nun arbeiten würde, lag direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, sodass mein Arbeitsweg sehr kurz war.

Der Direktor wirkte auf mich wie ein sehr freundlicher Mann. Er behandelte mich nicht wie ein Kind, so wie ich es von zu Hause oder in der Schule gewohnt war. Er sprach mit mir wie mit einem richtigen Erwachsenen. Ich fühlte mich wertgeschätzt und vor allem willkommen. Ich weiß nicht, wann oder ob ich das jemals zuvor so erlebt hatte.

Ihn interessierte auch nicht so sehr, warum ich von der Schule geflogen war, sondern viel mehr für mich. Er wollte zum Beispiel wissen, was ich gerne in meiner Freizeit tat, was ich gerne esse und wie mein Leben bisher so verlaufen war. Er interessiert sich einfach für mich als Person und nicht für die (angeblich) faule und rebellische Paula, die von der Schule geflogen ist und die zu Hause keiner mehr haben will.

Das fand ich toll. Mit jedem Gespräch, das wir führten, konnte ich ihn besser leiden. Und als wir das erste Mal gemeinsam durch das Hotel gingen, hatte ich das Gefühl, dass jeder im Hotel ihn sehr gut leiden konnte, egal ob Angestellter oder Gast.

Er führte das alte Schwarzwald-Hotel bereits in der dritten Generation. Es war sehr altmodisch eingerichtet und super verwinkelt. Es gab viele dunkle Balken mit weißen Wänden, vertäfelte Decken und unzählige alte Bilder an den Wänden. Es wirkte alles so gemütlich auf mich. Ich fühlte mich sofort wohl.

Der Direktor war schon ein recht alter Mann. Ich schätze ich auf mindestens 60 Jahre, wahrscheinlich sogar älter. Er hätte mein Opa sein können – ein Opa, den ich nie hatte. Ein Opa mit dickem Bauch, einer Halbglatze und grauem Haar. Sein Gang war langsam und behäbig, irgendwie gemütlich. So wie sein Hotel eben.

Ich konnte es kaum erwarten, loszulegen.

Paula - Sklavin in AusbildungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt