Kapitel 3: Ein zerbrechliches Geheimnis

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Jonas hatte sich schnell an sein neues Zuhause gewöhnt. Es war ruhig in der Nachbarschaft, fast schon zu ruhig – bis auf das Haus nebenan. In den Nächten, wenn das Licht längst aus war und die Straßen still, konnte er manchmal Schreie hören. Gedämpft, aber deutlich genug, dass er jedes Mal die Stirn runzelte. Es war immer dieselbe raue Stimme eines Mannes und die schneidende Antwort einer Frau. Danach kam Stille. Immer wieder Stille.

Es dauerte nicht lange, bis er merkte, dass die Schreie aus Klaras Haus kamen. Jedes Mal, wenn er sie in der Schule sah, dachte er an diese Geräusche. Sie schien ihm so ruhig, so zurückgezogen. Niemand sprach mit ihr, und sie sprach mit niemandem. Doch etwas an ihr faszinierte ihn – diese Stille war nicht einfach nur Schüchternheit. Es war, als würde sie eine schwere Last tragen, die niemand sah.

An einem kühlen Herbsttag, als sie beide zufällig den gleichen Weg nach Hause gingen, bemerkte er es. Klara trug lange Ärmel, obwohl es wärmer war, als das Wetter es verlangte. Als sie ihre Tasche auf die andere Schulter schwang, rutschte der Ärmel für einen kurzen Moment nach oben. Jonas sah etwas, das ihn zusammenzucken ließ. Ein blauer Fleck, groß und dunkel, zierte ihren Unterarm.

„Hey, Klara! Warte mal!" rief er, als sie versuchte, schneller zu gehen.

Klara drehte sich um, ihre Augen weiteten sich kurz, als sie seine Stimme hörte. Sie blieb stehen, aber es war offensichtlich, dass sie nicht wollte, dass er ihr folgte.

„Was ist los?", fragte Jonas, obwohl er ahnte, dass sie die Frage nicht mochte. Er zeigte mit einem vorsichtigen Blick auf ihren Arm. „Was ist mit deinem Arm passiert?"

Schnell zog Klara ihren Ärmel herunter und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen wanderten nervös umher, als suchte sie nach einer Ausrede. „Ich... ich bin nur hingefallen", murmelte sie und sah zu Boden.

Jonas wusste, dass sie log. Die blauen Flecken, die Schreie – es passte alles zusammen. Aber er wollte sie nicht bedrängen. Stattdessen nickte er nur langsam. „Okay", sagte er leise. „Aber... wenn du mal jemanden brauchst, mit dem du reden kannst..."

„Mir geht es gut", unterbrach sie ihn schnell und ihre Stimme klang dabei abgehackt. Sie drehte sich abrupt um, als wolle sie dem Gespräch entkommen, und eilte die Straße hinunter.

Jonas sah ihr nach, seine Stirn in Falten gelegt. Er wusste, dass sie nicht in Ordnung war, aber er wusste auch, dass sie nicht bereit war, darüber zu sprechen. Zumindest nicht jetzt.

Wenn die Schatten schweigen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt