Wenn die Schatten schweigen

Kapitel 2: Ein neuer Nachbar

Am nächsten Morgen war das Geschrei der Eltern noch lauter als sonst. Klara ließ es über sich ergehen, während sie sich für die Schule fertigmachte. Sie war froh, das Haus zu verlassen, auch wenn die Schule kein Zufluchtsort für sie war. In der Schule war sie das stille Mädchen, das niemand wirklich wahrnahm. Sie sprach nur, wenn sie musste, und verbrachte die Pausen allein. Es war einfacher, nicht aufzufallen.

Als sie aus der Haustür trat, sah sie den Jungen von gestern wieder. Er stand in der Einfahrt seines neuen Hauses und lehnte sich lässig gegen den Umzugswagen, der noch immer einige Kartons geladen hatte. Er schien sie nicht zu bemerken, aber Klara konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Da war etwas an ihm, das anders war – nicht nur, weil er neu war. Es war seine Ausstrahlung. Geheimnisvoll, fast unnahbar.

Klara schluckte und versuchte, unauffällig an ihm vorbeizugehen, als plötzlich seine Stimme ertönte. „Hey."

Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich langsam um. Der Junge stand jetzt aufrecht und sah sie direkt an. Seine dunklen Augen waren ruhig, aber in ihnen lag ein unerklärlicher Funke, der Klara nervös machte.

„Ähm, hi", brachte sie leise hervor und senkte den Blick.

„Du wohnst hier?" fragte er und deutete mit einem Nicken auf das Haus nebenan.

Klara nickte, ohne ihn anzusehen. „Ja, schon lange."

„Ich bin Jonas", stellte er sich vor und trat einen Schritt auf sie zu. „Wir sind gestern eingezogen."

„Ich bin Klara", murmelte sie, immer noch unsicher, wie sie reagieren sollte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass jemand Interesse an ihr zeigte – vor allem jemand Fremdes.

Jonas lächelte leicht, als er das Schweigen bemerkte, und steckte die Hände in die Taschen. „Vielleicht sehen wir uns ja in der Schule. Ich fange heute dort an."

„Vielleicht", antwortete Klara knapp und drehte sich um, bevor sie zu spät kommen würde.

Den ganzen Weg zur Schule konnte sie nur an Jonas denken. Wer war dieser geheimnisvolle Junge? Und warum hatte sie das Gefühl, dass er ihr Leben auf irgendeine Weise verändern würde?