Kapitel 22

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Harry erwachte am nächsten Morgen, und ein seltsames Kribbeln zog durch seinen Körper. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass es der schwache Lichtschein war, der durch die dünnen Vorhänge des Schlafzimmers fiel und seine Haut erwärmte. Für einen Augenblick hielt er den Atem an und blinzelte mehrmals, als er das Licht spürte. Dann öffnete er die Augen weiter, und was er sah, ließ ihn vor Staunen innehalten. Die Umrisse waren nicht mehr verschwommen. Er konnte tatsächlich die Decke über ihm sehen, den zarten Kontrast zwischen den Lichtflecken, die vom Fenster aus hereinfielen, und den Schatten, die sie warfen. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Ehrfurcht hob er seine Hand, um sie vor seinem Gesicht zu halten, und das Bild war klar. Er konnte jede Linie, jede Falte seiner Haut sehen. Ein Zittern ging durch ihn hindurch, und er fühlte, wie sein Herz schneller schlug.

»Severus«, murmelte er atemlos, seine Stimme zitternd vor Unglauben. Er drehte den Kopf, und da war er – Severus, der noch schlief, das Gesicht friedlich und entspannt. Sein Haar lag zerzaust auf dem Kissen, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Harry fühlte, wie Tränen in seine Augen stiegen, und er hob die Hand, um sie über die Wange seines Liebsten gleiten zu lassen. Severus blinzelte, seine Augen öffneten sich langsam, und er sah Harry an.

»Guten Morgen«, sagte er leise, ein kleines Lächeln auf seinen Lippen, als er sich streckte. Aber dann bemerkte er den Ausdruck auf Harrys Gesicht und seine Stirn legte sich in Falten. »Was ist los?«

»Ich... ich kann dich sehen«, flüsterte Harry, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich kann dich wirklich sehen.« Severus starrte ihn ungläubig an, als ob er die Bedeutung von Harrys Worten erst verarbeiten musste.

»Das ist...«, begann er, doch seine Stimme versagte. Er zog Harry näher zu sich, drückte ihn fest an sich, während Harry unkontrolliert schluchzte, die Emotionen einfach überwältigend.

»Du siehst mich«, flüsterte Severus schließlich, als hätte er es auch noch nicht ganz begriffen.

»Ja«, bestätigte Harry, seine Stimme erstickt. »Und ich will nie wieder aufhören, dich zu sehen.« Sie blieben noch eine Weile so liegen, bevor Severus schließlich vorschlug: »Wir sollten ins St. Mungo's gehen. Du solltest untersucht werden, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.« Harry nickte und ließ sich von Severus aus dem Bett helfen. Die Welt um ihn herum war immer noch so unglaublich klar, dass er kaum fassen konnte, was geschah. Jede Farbe, jedes Detail schien so lebendig zu sein, als ob er die Welt zum ersten Mal sah und er hoffte, dass es auch so blieb.

Es war noch sehr früh am Morgen, als sie direkt vor das Krankenhaus apparieren. Sie traten durch die großen, hölzernen Türen. Das Innere des St. Mungo's war erstaunlich ruhig, nur das leise Flüstern der Heiler und das Knistern von Kerzen auf den Fluren begleiteten sie. Severus führte Harry vorsichtig durch die Korridore, immer darauf bedacht, seine Hand festzuhalten, als ob er sicherstellen wollte, dass Harry ihm nicht plötzlich entrissen würde.

»Es ist Weihnachten«, flüsterte Harry, als sie an einem prächtigen Baum vorbeikamen, der in der Ecke des Empfangsbereichs aufgestellt war. »Ich hätte nie gedacht, dass ich es jemals wieder sehen würde.«

»Ja, ein Weihnachtswunder vielleicht«, antwortete Severus, ein zärtliches Lächeln auf seinen Lippen, während er Harrys Hand drückte.

»Mr. Potter, Professor Snape!« Eine vertraute Stimme ertönte, und sie drehten sich beide um. Heiler Andrew Morgan kam auf sie zu, ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht, auch wenn seine Augen einen Funken Überraschung zeigten.

»Ich hatte heute Morgen nicht damit gerechnet, Sie beide hier zu sehen. Was führt Sie her?«

»Er kann wieder sehen«, antwortete Severus, seine Stimme noch immer von Unglauben durchdrungen.

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