Kapitel 12

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Am nächsten Morgen war die Sonne bereits über den Horizont gestiegen, und das sanfte Licht, das durch die Fenster in den Raum fiel, schien in krassem Gegensatz zu den Gefühlen zu stehen, die Harry gerade durchlebte. Er saß am Frühstückstisch, Severus gegenüber, doch er konnte das leichte Zittern in seinen Händen nicht verbergen, als er versuchte, das Brot vor ihm zu schneiden. Sein Magen war flau, nicht aus Hunger, sondern aus einer nervösen Spannung, die ihn seit dem Aufwachen begleitet hatte. Er hatte neben Severus geschlafen – nackt. Die Erinnerung daran, wie er aufgewacht war, das Laken sanft auf seiner Haut, das Gefühl von Severus' Körper so nah bei ihm, war ihm so präsent, dass es ihn fast überforderte. Es war nicht, dass es unangenehm gewesen war – im Gegenteil. Es war schön gewesen, aber auch ... beängstigend. Jetzt, im hellen Licht des Morgens, schien alles viel realer, viel ... peinlicher. Harry schob sein Essen mit der Gabel hin und her, unfähig, richtig zu essen. Die Stille im Raum fühlte sich schwer an, und er spürte Severus' Blick auf sich, selbst wenn er ihn nicht direkt ansah.

»Du bist still heute Morgen«, bemerkte Severus schließlich, seine Stimme ruhig, fast neugierig. Es war kein Vorwurf in seiner Stimme, sondern eher eine sanfte Einladung, zu sprechen. Harry zuckte leicht zusammen, als er angesprochen wurde, und zwang sich, einen tiefen Atemzug zu nehmen.

»Ja, ich...«, er wusste nicht, wie er die richtigen Worte finden sollte, seine Gedanken schienen wirr. »Es ist nur...«, er zögerte, spielte nervös mit der Gabel in seiner Hand. »Es ist komisch. Ich meine, ich bin aufgewacht und ... ich war nackt ... neben dir.« Die Worte stolperten ihm aus dem Mund, und er wurde rot, während er sie aussprach. Severus sah ihn für einen Moment ruhig an, dann legte er seine Gabel zur Seite und lehnte sich etwas nach vorn und legte eine Hand auf Harrys.

»Das ist nichts, wofür du dich schämen musst«, sagte er sanft. »Es ist ganz natürlich, dass du dich vielleicht ein wenig unsicher fühlst. Aber es gibt keinen Grund, dir Sorgen zu machen.« Harry schüttelte leicht den Kopf, als ob er die Worte von sich abwehren wollte.

»Es ist nur ... ich habe keine wirkliche Erfahrung«, gestand er leise, während er die Tischkante anstarrte. »Mit Ginny ... wir waren nie so weit. Ich war immer irgendwie ... gehemmt. Es fühlte sich nicht richtig an.« Er spürte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht schoss, während er weitersprach. »Ich weiß nicht mal, warum ich so nervös bin. Es sollte doch ... normal sein, oder? Aber ich hab einfach keine Ahnung.« Severus beobachtete ihn für einen Moment und ließ Harrys Worte in der Stille des Raumes nachklingen, bevor er schließlich antwortete.

»Erfahrung ist etwas, das mit der Zeit kommt«, sagte er ruhig. »Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Jeder erlebt diese Momente zum ersten Mal, und das, was du empfindest, ist völlig normal.« Harry hob zögerlich den Kopf, obwohl er Severus nicht direkt ansehen konnte.

»Aber was, wenn ich es falsch mache? Was, wenn ich...«, er verstummte, unfähig, den Satz zu beenden. Das Thema war ihm unangenehm, aber gleichzeitig spürte er den Drang, offen darüber zu sprechen – vielleicht, weil er wusste, dass Severus ihn nicht verurteilen würde. Severus lächelte leicht.

»Du wirst nichts ‚falsch' machen«, sagte er bestimmt. »Es gibt keine festen Regeln. Es geht darum, was sich für uns beide richtig anfühlt. Du musst dich nicht unter Druck setzen.« Harry spürte eine leichte Erleichterung, als er das hörte, aber die Unsicherheit blieb.

»Es ist nur...«, murmelte er, »es fühlt sich alles so neu an. Und du...«, er ließ den Satz in der Luft hängen, als ob die Worte zu schwer wären, um sie zu Ende zu bringen. Severus verstand jedoch, ohne dass Harry weiter erklären musste.

»Auch ich hatte ein erstes Mal«, sagte er leise, als ob er diesen Teil seiner Vergangenheit vorsichtig in die Gegenwart holen wollte. »Es war nicht einfach. Und es war nicht mit einer Frau.« Er hielt kurz inne, als er die Erinnerungen in sich aufsteigen ließ. »Es war mit einem Mann. Damals war ich etwa in deinem Alter.« Harry sah überrascht auf. Severus hatte nie viel über seine Vergangenheit gesprochen, schon gar nicht über etwas so Intimes. Diese Offenheit überraschte ihn, aber es half auch, die Nervosität etwas zu lindern.

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