Kapitel 1

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Heute war ein beschissener Tag. Und er drohte gerade noch beschissener zu werden. Meine Stiefel waren dreckig vom ganzen Regen der letzten Tage, während ich weiter durch die Gassen Brooklyns stampfte und mich verstohlen umsah.

Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Ich hatte meine Studie über die Heileigenschaften von Minze im Gewächshaus endlich beendet und mir danach ein Mittagessen im Deli um die Ecke gegönnt.

Aber nein.

Ich beschleunigte meine Schritte und schnaubte genervt, aber ich wusste so gut wie mein Verfolger oder Verfolgerin, dass ich so schnell rennen konnte, wie ich wollte. Er oder sie würde mich ohne die geringste Anstrengung einholen. In Momenten wie diesen war es extra beschissen, eine Übernatürliche ohne übernatürliche Kräfte zu sein. Außerdem würde ich dann gerade nicht so schwitzen müssen. Ich würde einfach ein Portal öffnen und verschwinden, oder ich würde mit Klauen und Zähnen kämpfen. Aber in meinem derzeitigen Zustand blieben mir nicht viele Möglichkeiten, also entschied ich mich für die erbärmliche Option Verstecken, weit weg von irgendwelchen Menschen.

Ich war zwar eine Hexe ohne magische Fähigkeiten, mein sechster Sinn funktionierte allerdings noch und er hatte mich schon zwei Blocks zuvor gewarnt, dass etwas nicht stimmte.

Im Gehen drehte ich mich um, doch ich sah nichts und niemanden. Meine Haare klebten inzwischen an meinem Kopf und meine Socken waren durchgenässt. Ich fluchte und bog in die nächste Straße ab. Außer einer Mülltonne bot sich kein Schutz, ich war in einer Sackgasse gelandet. Ich besaß so viel Stolz, dass ich mich definitiv nicht hinter stinkendem Müll kauern würde.

Ich kniff die Augen zusammen. Mit klopfendem Herz drehte ich mich um. Am Ende der Gasse, wo vor Augenblicken noch niemand war, stand jetzt ein Mann.

Ich umklammerte den Anhänger, der um meinem Hals hing. Das Amulett, das mir meine Schwester geschenkt hatte, war mein einziger Schutz. Es konnte kleinere Flüche abwehren und machte meine Ortung einfacherer, aber gegen physische Angriffe war es nutzlos.

Der Mann war groß, er hatte sich nicht bemüht, die Kapuze seines Pullovers als Schutz gegen den Regen hochzuziehen und so hatte ich einen unverstellten Blick auf sein markantes Gesicht und die hellbraunen Augen. Seine Haltung blieb entspannt, es schien ihn nicht zu kümmern, dass seine blonden Haare durch das Wasser an seinen Schläfen klebten.

Trotz seiner lockeren Erscheinung fingen meine Hände zu zittern an, die ich schnell zur Faust ballte. Er strahlte eine gewaltige Kraft aus und das war alles, was die Übernatürlichen interessierte.

Im nächsten Augenblick setzte der Fremde sich in Bewegung und beim nächsten Blinzeln stand er nur noch einen Meter von mir entfernt. Alles in mir schrie danach, wegzulaufen, doch ich zwang mich stehen zu bleiben, wo ich war. Vielleicht konnte ich mich ja herausreden oder gut genug schauspielern und ihn überzeugen, dass er die falsche erwischt hatte? Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf lachte mich aus.

»Wer bist du und was willst du?«, brachte ich heraus, während ich meine zitternden Hände versteckte, indem ich die Arme ineinander verschränkte.

Der Fremde, auf jeden Fall ein Vampir, gemessen an seiner Geschwindigkeit, legte den Kopf schief. Sein Mundwinkel zuckte. Er war gutaussehend, das waren sie alle, mit den scharfen Gesichtszügen, sandfarbenen Haaren und den hellbraunen Augen.

Als er zu sprechen begann, überraschte mich seine sanfte Stimme. Sie war tief und angenehm, aber passte so gar nicht zu seiner Aura.

»Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige, aber es war schwer, dich zu erwischen. Mein Name ist Adam und ich bin in der Angelegenheit meines Clans hier.«

Ich hob die Augenbrauen. »Ich wüsste nicht, was mich das angeht. Also noch einmal: Was willst du von mir?«

Wenn man bedachte, wie angespannt die derzeitige politische Lage in den Reihen der Übernatürlichen war, war dieses Treffen für beide Seiten riskant.

Dieser Adam betrachtete mich von oben bis unten, sein Gesicht blieb dabei ausdruckslos und ich hatte keine Ahnung, was er dachte.

»Ich bin Agent und derzeit mit der Aufklärung eines Falles betraut. Die Umstände kann ich hier nicht genauer erklären, aber es scheint eine Verbindung zu den Hexen zu geben. Eine heikle Geschichte, wie du dir vorstellen kannst, deshalb benötige ich die Expertise einer Hexe. Einer besonderen Hexe.« Seine spitzen Eckzähne kamen zum Vorschein, als er lächelte.

Ich versuchte meinen Unglauben zu überspielen. »Der Vampirclan braucht die Hilfe einer Hexe? Unwahrscheinlich. Und auch wenn ich wollte, bleibt das Problem, dass ich von meinen eigenen Leuten als Verräterin angesehen werden würde, sollte ich auch nur erwägen, euch zu helfen. Außerdem bin ich nicht besonders.« Ich betrachtete meine Nägel. »Ich besitze keine Magie, wie du sehr genau bemerkt hast.«

Adam schnalzte mit der Zunge und kam näher.

»Du lügst so schlecht, man muss nicht einmal übernatürlich sein, um das zu bemerken. Was deine erste Sorge betrifft, habe ich schon eine Lösung. Nun, zu deinem zweiten Punkt ...«

Er senkte die Stimme und lächelte einfach weiter, was mich langsam wahnsinnig machte. »Ich bin ebenfalls ... besonders, und meine Fähigkeiten verraten mir, was du bist und wer du bist.«

Oh Shit.

Macht war die Währung der Übernatürlichen. Wer viele magische oder körperliche Fähigkeiten und so weiter besaß, war mächtig. Daran wurde praktisch der Wert einer Person in der Gesellschaft gemessen. Also könnt ihr euch denken, wo ich in dieser Hierarchie ungefähr stand.

Diese Eigenschaften wurden meist vererbt oder entstanden gezielt durch Züchtungen. Wer nicht mächtig war, hatte nichts zu sagen und zu entscheiden. Und es gab viel zu entscheiden. In der Welt der Übernatürlichen war alles streng reglementiert, zum Beispiel wer Zugang zu gewissen Zauberformeln hatte, welche Menschen als Blutbank dienen durften, wie groß ein Revier gemessen an der Rudelgröße war etc. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Anführer der verschiedenen Gruppen der Übernatürlichen meist aus denselben Familien stammten und jahrhundertelang uneingeschränkt regieren konnten.

Es gab allerdings Ausnahmen. Die Natur verlangt stets nach Balance. Selbst die Übernatürlichen konnten sich nicht gegen das Schicksal wehren. Seit Anbeginn der Geschichte tauchten immer wieder einzelne Übernatürliche auf, die mit speziellen Fähigkeiten und Kraft gesegnet waren und einen Wirbel in der Gesellschaft verursachen konnten. Wir nannten es den Segen. So stellte diese übernatürliche Kraft das kosmische Gleichgewicht wieder her. Wer ausgewählt wurde, wie und wann, war ein Mysterium.

Wenn dieser Vampir also erzählte, er sei besonders, dann hatte ich ein großes Problem. Seiner pulsierenden Aura nach zu urteilen, erzählte er die Wahrheit. Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen.

Ich lächelte süffisant. »Dann sind deine Sensoren wohl kaputt, tut mir leid. Ich werde jetzt gehen.«

Er würde mir nichts antun, sonst riskierte er einen Krieg mit den Hexen, egal wie unbedeutend ich war.

Ich setzte mich in Bewegung und drückte mich an Adam vorbei, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Aus der Nähe wirkten seine Augen wie flüssiger Honig.

»Interessiert dich gar nicht, was meine Lösung für Problem eins wäre?«, schnurrte er, als ich nahe genug war.

Ich verdrehte die Augen, ignorierte seinen Köder und ging weiter, um ihm den Rücken zuzukehren.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meinem Mund und dämpfte meinen Schrei. Adams warmer Atem strich über meinen Hals, während er weiterredete.

»Wenn du entführt wirst, geschieht das wohl kaum aus freiem Willen und niemand kann dir vorwerfen, deinen Zirkel zu verraten.«

Er roch nach frischer Seife und einem Hauch Kaffee, fiel mir auf, bevor seine kühlen Finger einen Punkt an meinem Hals ertasteten, zudrückten und mir schummrig wurde. Keine drei Sekunden später sackte ich bewusstlos in seinen Armen zusammen.

Verdammte Vampire.

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