Kapitel 9: Ein neuer Morgen

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Der neue Morgen brach an, als ich die Augen öffnete und mich von den ersten Sonnenstrahlen blenden ließ. Es war 7:56 Uhr, und der schwache Lichtschein, der durch das schmutzige Fenster drang, konnte den Raum nur spärlich erleuchten. Der Vorhang war zur Seite gezogen und ließ die kalte Morgensonne unbarmherzig in den Raum scheinen. Der Raum selbst war ein Spiegelbild meines geistigen Zustands: chaotisch und verlassen. Alte Zeitungen, die über den Boden verstreut lagen, stapelweise ungespültes Geschirr auf dem Tisch und die Decke, die ich mir irgendwann im Schlaf übergeworfen hatte. Auf dem Sofa hatte ich die Nacht verbracht, wie so oft, wenn die Gedanken und Erinnerungen mich quälten. Die Nacht war lang und traumlos gewesen, als ob ich in einem tiefen, unangenehmen Schlaf gefangen war.

Meine Glieder fühlten sich schwer an, als ich mich langsam aufsetzte und den Blick auf mein Handy warf. Eine Nachricht von Emma leuchtete auf dem Bildschirm auf, und ich konnte mir sofort das Grinsen in ihrer Stimme vorstellen. „Hey Samuel... Sam", las ich. „Hab dich schon lange nicht mehr an unserem Platz gesehen, bist du verschollen? Soll ich Ermittlungen starten? Cold Case?" Ein kleines, schüchternes Schmunzeln huschte über mein Gesicht, auch wenn es mir wie ein Verbrechen vorkam, denn ich wusste, dass ich so viel mehr zu trauern hatte als nur das, was Emma anscheinend übersehen hatte.

Bevor ich antworten konnte, vibrierte das Handy erneut. Janic rief an. Drei Mal klingelte es, bevor ich die Stimme meines alten Freundes hörte. „Sam? Geht es dir gut? Soll ich vorbei kommen?" Seine Worte trafen mich direkt, und ich hielt kurz inne. Der Gedanke, dass jemand sich wirklich um mich sorgte, stieß auf Widerstand in mir, als ob er in mir einen abgenutzten, alten Schalter betätigte. Mein Blick wanderte über den Raum, der sich wie eine Festung des Verfalls anfühlte. Der Müll, die nicht gemachten Betten und die allgemeine Tristesse um mich herum verstärkten das Gefühl der Isolation, das mich quälte.

„Ja... Ja, es geht mir gut, Janic..." Meine Antwort kam hastig, eher reflexartig, obwohl ich wusste, dass sie nicht die Wahrheit widerspiegelte. „Lass uns einfach im Café treffen. Ich könnte einen guten Kaffee gebrauchen." Ich spürte, wie meine Stimme zitterte, und es kostete mich einige Sekunden, bis ich mich wieder gefasst hatte.

„Klingt gut. Ich mach mich gleich auf den Weg", sagte er, und ich wusste, dass ich jetzt keine Zeit mehr hatte, mich in meiner selbst gewählten Dunkelheit zu verkriechen. Es war Zeit, mich zusammenzureißen, meinen kaputten Körper wieder in die Außenwelt zu entlassen.

Fünfzehn Minuten später betrat ich das kleine Café, das schon immer mein Zufluchtsort gewesen war. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der sich mit dem warmer Croissants vermischte, umhüllte mich wie eine warme, einladende Umarmung. Die Atmosphäre im Café war beruhigend und vertraut. Die Wände waren mit bunten Bildern verziert, die in der sanften Morgenbeleuchtung lebendig wirkten. Im Hintergrund spielte leise Jazzmusik, die das Ambiente perfekt abrundete und den Raum mit einer entspannten, fast träumerischen Stimmung füllte.

Ich fand Janic in einer der Ecken, wie er mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf mich wartete. Der Dampf stieg in die Luft, und er blickte auf, als er mich erblickte. „Hey, Sam! Schön, dich zu sehen!" Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das für einen Moment mein eigenes trübes Gemüt aufhellte.

„Ja, ich auch", antwortete ich, obwohl ich das Gefühl hatte, als ob ich mich selbst gerade kaum erkannte. Ich setzte mich ihm gegenüber, die Wärme des Raumes hüllte mich ein, aber in meinem Kopf drifteten die Gedanken ab. Janic sprach über seine neuesten Erlebnisse, die wahrscheinlich nur die kleinsten, alltäglichen Dinge betrafen, aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Mein Blick schweifte umher. Die kleine, ältere Dame an einem Tisch, die mit einem Buch beschäftigt war, schien in ihre eigene Welt versunken zu sein. Am Fenster spielten fröhliche Kinder, ihre Stimmen erfüllten den Raum mit unschuldiger Freude. Der Kellner mit seinem Tablett voller Tassen und die klirrenden Geräusche von Porzellan. All diese Details erreichten mich wie durch einen Nebel, als meine Gedanken immer wieder von der realen Welt abhoben.

Ich versuchte mich zu konzentrieren, auf Janic und seine Worte, aber ich verlor mich immer wieder in den flimmernden Bildern in meinem Kopf. In meinem Inneren wirbelte ein Sturm, der keine Pause kannte. Plötzlich begann ich mir vorzustellen, wie kleine, bunte Drachen durch den Raum flogen, die fröhlich miteinander spielten und das Licht in den schillerndsten Farben brachen. Ich schüttelte den Kopf, um mich zu sammeln, während ich versuchte, die Worte von Janic in meinen Kopf zu bringen.

„Und dann habe ich mir gedacht, dass wir unbedingt mal wieder zusammen zum Baseball gehen sollten. Was hältst du davon?" fragte Janic und sah mich dabei gespannt an. Ich nickte mechanisch, ohne wirklich zu wissen, worüber er sprach. Meine Antwort war mehr ein Echo von ihm als ein echtes Interesse.

„Klingt gut", murmelte ich, während ich absently auf meinen Becher starrte.

Janic beobachtete mich einen Moment lang, dann hob er eine Augenbraue. „Nur wenn das nicht zu viel ist", sagte er mit einem leicht besorgten Unterton.

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Cafés und Emma trat ein. Wie ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen Wolken bricht, erhellte sie den Raum. Ihr Lächeln durchbrach die trüben Gedanken, die mich noch vor einer Sekunde gefangen hielten. „Sam! Dort bist du ja!", rief sie, und ihre Stimme klang so frisch und lebendig, dass ich für einen Augenblick das Gefühl hatte, in eine andere Welt einzutauchen.

„Oh, wer ist...", begann Janic, aber Emma hatte mich bereits erreicht und setzte sich ohne Zögern zu uns.

„Hey! Ich hab dich gesucht! Wie geht's?" Ihre Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, und ich spürte sofort eine Erleichterung, als wäre sie ein Stück der Welt, das ich vorhin verloren hatte. Ihr Enthusiasmus wirkte wie eine Befreiung, und für einen Moment vergaß ich alles andere. Sie setzte sich ohne Vorwarnung auf den Stuhl gegenüber von mir, und ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug.

„Das hier ist Janic, mein bester Freund", stellte ich sie vor, und dabei bemerkte ich, wie mir ein Hauch von Unbehagen über die Lippen kam. Ich wusste, dass ich mich in einer Situation befand, in der ich mich unangemessen fühlte. Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie die beiden wohl miteinander umgehen würden.

„Hallo, Janic!" rief Emma, als sie ihm die Hand schüttelte, und ich konnte sehen, wie beide eine sofortige, fast spielerische Sympathie füreinander entwickelten.

„Echt? Nur Gutes, ich hoffe?", erwiderte Janic mit einem breiten Grinsen, und ich konnte die Frage in seinen Augen sehen, als er mich anblickte. Was hatte ich ihr über ihn erzählt? Was wusste sie eigentlich über uns? Ich wollte nicht, dass Janic dachte, ich hätte eine heile Welt erschaffen, die in Wirklichkeit nicht existierte.

„Sam hat dir wohl nicht erzählt, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler ist", sagte Janic lachend. „Er hat die besten Geschichten aus seiner Kindheit. Du wirst lachen, wenn du hörst, was er so alles erlebt hat." Mein Gesicht wurde heiß. Der Gedanke, meine Vergangenheit zu teilen, empörte mich irgendwie. Was hatte Janic in Wirklichkeit von mir erzählt? Warum war das in diesem Moment so wichtig?

„Ehm, das ist nicht so wichtig...", versuchte ich hastig, das Gespräch zu steuern, aber Emma schien neugierig, und ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie mich aufforderte, mehr zu erzählen.

„Oh, komm schon, Sam! Teile es mit uns!" Ihre Augen funkelten vor Neugier, und ich konnte nicht anders, als mich ein wenig unter Druck gesetzt zu fühlen.

Ich wollte mich zurückziehen, wieder in meine Welt der Gedanken fliehen, aber plötzlich schien alles um mich herum so lebendig und greifbar, als ob die kleine, bunte Drachenwelt in meinem Kopf wieder aufleuchtete. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber die Realität um mich herum wollte nicht in mein inneres Bild passen.

„Ich... ähm...", stotterte ich und versuchte, den Gedanken an die fliegenden Drachen loszuwerden. „Es war nicht wirklich spannend..."

Die Konversation setzte sich fort, und ich kämpfte darum, präsent zu bleiben. Ich wollte nicht wieder in meine Tagträume abdriften, wollte nicht, dass die Drachen mich ein weiteres Mal von der Realität entführten. Doch das war der Moment, in dem ich verstand, dass es immer einen Weg zurück in die Welt gab - selbst wenn ich oft das Gefühl hatte, dass ich nicht ganz dazugehörte.

Mein Name ist Sam...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt