Kapitel 19

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Januar, 1997

Mit einem Knall flog die Tür zum Klassenzimmer auf, und Severus Snape trat ein, seine Lehrerroben wogten hinter ihm.

"Schlagen Sie ihre Bücher auf. Seite 357", sagte er scharf.

Alle Gespräche verstummten abrupt und der Raum wurde still, bis auf das Geräusch der aufgeschlagenen Seiten. Hermine musste zugeben, dass er wirklich wusste, wie man einen Raum beherrschte.

Sie war nervös. Hermine war viel zu spät in Ihrem Schlafsaal angekommen und noch weit in die Nacht hinein hatten ihre Gedanken sie begleitet: Severus kindliche Aufregung, Severus Harre voller Schneeflocken, Severus dessen Augen sie im Schein der Laternen so warm anstrahlten während tausende Eulenfedern durch die Nacht wirbelten. Severus... bei Merlin McGonagall war noch nie so enttäuscht von ihr gewesen. Und Dumbledore wusste schon über Monate - über Jahre von ihrem Geheimnis.

Hermine hatte so lange wie möglich geschlafen, sie hatte das Frühstück verpasst und ihr Magen war davon nicht gerade begeistert.

Und sie wusste nicht, wie es Severus ergangen war. Sie bezweifelte ein wenig, dass das Haus Slytherin nachsichtig war. Vielleicht ging es den Schülern damals aber auch gar nicht so sehr um Punkte, sondern vielmehr um ihre Position gegenüber Voldemort. Sie wusste es nicht, und da der Unterricht stattfand, hatte sie keine Gelegenheit, ihn zu fragen.

Jetzt war das erste Mal, dass sie ihm - dieser Version von ihm - so nahe war, seit sie sich am Freitag in den frühen Morgenstunden begegnet waren. Hatte sich ihre Wut bei Severus doch viel zu schnell verflüchtigt so kam sie jetzt wenigstens im voller Härte zurück. Er jedoch wirkte völlig unbeeindruckt. Seine Kleidung war tadellos, sein Gehrock bis zum Hals zugeknöpft, sein Haar ordentlich hinter die Ohren gesteckt.

Hermine hasste es. Sie wollte, dass er etwas fühlte, dass es ihm wehtat, so wie es ihr weh tat.

Als Snape einen weiteren Vortrag über Schildzauber begann, schaltete Hermine absichtlich ab. Was sollte das, verdammt noch mal? Sie hatte das Kapitel bereits zweimal gelesen - und mehrere andere, weitaus nützlichere Bücher über die praktische Anwendung von Schildzaubern. Sie musste nicht aufpassen - und sie wollte es auch gar nicht.

Stattdessen ließ sie ihre Gedanken abschweifen und starrte aus dem Fenster in den grauen Januarhimmel. Eine Eule stürzte von einem der Türme herab, ein brauner Fleck inmitten der Wolken.

Doch selbst als Snape seinen Vortrag fortsetzte, spürte Hermine wieder dieses vertraute Kitzeln in ihrem Hinterkopf.

Diesmal jedoch war Hermine müde und wütend. Wenn er entschlossen war, in ihre Gedanken zu schauen, wenn er entschlossen war, sich vor ihr zu ekeln, dann würde sie ihn einfach gewähren lassen. Anstatt zu versuchen ihn aus ihrem Kopf zu bekommen oder ihn mit unsinnigen Erinnerungen zu konfrontieren, ließ sie ihn diesmal einfach herein.

Erinnerungen an das letzte Wochenende wirbelten in ihrem Kopf herum. Wie sie gemeinsam im Raum der Wünsche Schach spielten, Severus der fast schon mit ihr flirtete, Seinen Geburtstag, den er die letzten Jahre vermutlich allein und verbittert in seinen Räumen verbracht hatte, wie er sie förmlich anbettelte mit ihm nach Hogsmeade zu gehen, er wie er das Eis von ihrem Löffel leckte und sie dabei glücklich anstrahlte, ihre gemeinsame Nacht auf dem Sofa, ihr Körper an seinen herrlich warmen gekuschelt...

Sie beobachtete mit selbstgefälliger Genugtuung, wie Snape plötzlich mitten im Vortrag aufhörte zu sprechen und seine Lippen sich leicht spalteten. Er erholte sich sehr schnell, so schnell, dass ein zufälliger Beobachter es vielleicht nicht einmal bemerkt hätte. Aber Hermine war nicht der zufällige Beobachter.

Er schaute sie immer noch an, während er weitersprach und sich hinter sein Pult gestellt hatte.

Mit dem Mund erklärte er weiter, wie Schildzauber sowohl offensiv als auch defensiv eingesetzt werden konnten, aber seine Augen waren auf sie gerichtet. Hermine begegnete seinem Blick trotzig und forderte ihn heraus, noch einmal in ihre Gedanken zu schauen.

The Paradox of UsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt