Kapitel 2

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Oktober, 1996

Sie wusste es. Severus wartete seit Jahren, sechs um genau zu sein, auf den Tag, an dem Hermine Granger ihn mit einem gewissen Wiedererkennungswert in den Augen ansehen würde. Und heute war es endlich soweit. Sie starrte ihn die ganze Zeit in der Verteidigungsstunde an, nicht mit ihrem üblichen Blick, der so sehr darauf fixiert war, alles aufzusaugen, was ihr Professor ihr sagte, sondern mit einem vorsichtigen, neugierigen Blick, als ob sie ein Geheimnis hätte. Was sie natürlich auch tat.

Es brachte ihn verdammt noch mal um.

Sie wusste es, aber sie wusste es nicht. Sie mussten sich am Abend zuvor zum ersten Mal begegnet sein, aber er dachte nur an ihre letzte Begegnung, die für ihn nun fast 20 Jahre zurücklag. Es brachte ihn verdammt noch mal wirklich um.

Er hatte die letzten sechs Jahre damit verbracht, sie auf Abstand zu halten, was, ehrlich gesagt, nicht besonders schwierig gewesen war, als sie noch jung war. Sie war eine der unausstehlichsten Besserwisserinnen, die er je das Pech gehabt hatte, zu unterrichten. Aber jetzt sah sie genauso aus wie damals. Die Hasenzähne waren verschwunden. Ihr buschiges Haar hatte sich in dicke Locken aufgelöst. Und ihr Körper, nun, er war der der Frau, an die er sich erinnerte.

In den letzten Monaten hatte er sich dabei erwischt, flüchtige Blicke auf das Mädchen zu werfen, an das er sich von früher erinnerte: die Art, wie sie auf der Spitze ihres Federkiels kaute, wenn sie sich konzentrierte, die Art, wie das Licht auf ihre Locken fiel, die Art, wie sie ihre Lippen bewegte, wenn sie sich über etwas ärgerte.

Und jetzt wusste sie es, und das Gewicht dieser Erinnerungen traf ihn mit voller Wucht. Im Geiste verfluchte er sein siebzehnjähriges Ich. Warum konnte er es nicht einfach gut sein lassen? Schon an diesem ersten Abend hatte er gewusst, dass sie Jahre später seine Schülerin sein würde, und doch hatte er sich so sehr hinreißen lassen. Rücksichtsloser Mistkerl. Und jetzt musste er sich nicht nur mit einem sterbenden Dumbledore, einem abtrünnigen Draco und einem mörderischen Dunklen Lord herumschlagen, sondern auch noch mit Hermine Granger, die langsam begriff, wie viel sie einst gemeinsam gehabt hatten.

Die Schüler übten paarweise wortlose Schildzauber, wobei die meisten von ihnen kläglich scheiterten. Granger hatte es natürlich geschafft, Theodore Notts Betäubungszauber jedes Mal zu blockieren, während sie anscheinend nicht aufhören wollte, ihn anzustarren.

Als der Unterricht endlich gnädigerweise zu Ende war und die Schüler zusammenpackten, konnte er nicht anders: "Miss Granger, auf ein Wort, bitte."

Sie nickte den beiden Schwachköpfen, mit denen sie zusammen war, kurz zu, als wolle sie damit sagen, dass sie mit ihm allein in dem Raum gut zurechtkäme, und sie gingen mit dem Rest der Klasse hinaus. Wenn sie wüssten, was er wusste, würden sie sie nie wieder mit ihm allein in einem Raum lassen.

"So wie sie mich die ganze Stunde über angestarrt haben, schließe ich daraus, dass sie gestern Abend im Raum der Wünsche zugegen gewesen sind", sagte er und zwang sich, so teilnahmslos wie möglich zu klingen. Es war das Beste, es einfach auszusprechen.

Sie errötete leicht, "Oh, Sie erinnen sich daran."

"Ich habe mich immer daran erinnert, ich besitze nur gesundes Taktgefühl, Miss Granger."

"Ich hätte nichts anderes von Ihnen erwartet, Sir", sagte sie.

Severus lehnte sich gegen seinen Schreibtisch, die Arme vor sich verschränkt, um eine Barriere zwischen ihnen beiden zu bilden, "Ich erwarte, dass wir über nichts sprechen, das im Raum der Wünsche passiert ist, und ich erwarte auch, dass Sie es mit niemand anderem teilen."

"Was wird passieren? Wir werden uns also wiedersehen?"

Er schnaubte, "Das werden Sie wohl selbst herausfinden müssen, Miss Granger."

The Paradox of UsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt