17. Horizont

0 1 0
                                    

Kajas Kopf schnellte hoch. Da stand er. So imposant und gelassen wie immer. Eine unerträgliche Zerrissenheit zwischen unbändiger Trauer und Freude ließ sie erstarren. Die weissen Haare fielen ihm über die Schulter und verdeckten einen Teil seines Gesichtes. Kaja wagte kaum zu atmen, als löste er sich in Luft auf, wenn sie eine unbedachte Bewegung machte.

Seine hellen Augen funkelten und ein kleines Lächeln lag auf den Lippen, als er schlicht sagte: „Kaja!"

„Naril."

Kaja lag in seinen Armen und drückte ihn mit aller Kraft an sich. So stark, dass ihre Verletzungen bis über die Schmerzgrenze hinaus gespannt wurden. Aber sie spürte es kaum. Sie hatte vergessen, dass er nach Kräutern und Magie roch. Der Geruch verwob sich mit glücklichen Erinnerungen und wärmte ihr Innerstes. Erst jetzt erlaubte sich Kaja zu glauben, dass Naril echt und keine Ausgeburt ihrer Wunschvorstellungen war. Sie wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn vermisst hatte, dass sie ihn für tot gehalten hatte. Es entwichen ihr jedoch bloß Laute, die zwischen einem Schluchzer und einem Lachen klangen.

Naril strich über ihre Haare und wisperte beruhigende Worte. Wie Eis in der Sonne schmolz ihre Angst und Anspannung dahin. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, beschützt und geborgen, in den Armen, des einzigen Vaters, den sie je gekannt hatte.

Kaja schaffte es ihre Umklammerung, um Naril zu lockern, und weinte hemmungslos an seiner Schulter. Er ließ ihr Zeit, sich zu fangen. Mit tiefen Atemzügen gewann sie die Fassung über sich zurück und setzte sich ermattet auf den Stuhl in der Küche.

Kaja konnte ihren verwunderten Blick nicht von ihm abwenden. Sie hatte sich die ebenmäßigen Gesichtszüge in den vergangenen Tagen und Wochen so oft vor Augen geführt, dass sie jetzt unwirklich anmuteten. Eine Erinnerung an ein Gesicht, das Narils so sehr glich, blitzte in ihr auf, aber sie verbannte Koray sofort aus ihren Gedanken.

Mit der Hand strich sie über ihre Wange und den Hals hinunter, als spiegelte sie die Stelle, wo Naril von einer grossen, roten Narbe entstellt wurde, die hinter dem Kragen verschwand. Sie war neu. Kaja brauchte nicht zu fragen, da er in gemessenem Tonfall erklärte:

„Das ist eine der Verletzungen, die ich mir im Kampf gegen die Vollstrecker zugezogen habe."

„Ich dachte, sie hätten dich getötet." Kajas Stimme war zittrig.

„Beinahe. Es tut mir leid, dass du viel Schlimmes durchmachen musstest und ich dich nicht davor beschützen konnte. Aber die Schwere meiner Verletzungen machte es mir sehr lange unmöglich nach dir zu suchen."

Kaja schüttelte den Kopf. Sie wollte keine Entschuldigung von ihm, der alles für sie geopfert hatte. Zuneigung und Dankbarkeit bliesen sich in ihr auf wie eine Luftblase. Die Gefühle wurden immer grösser, als müsste Kajas Brust zerspringen.

Ein kleiner Ruck durchfuhr sie und warf sie fast von Stuhl. Schon wieder. Doch jetzt war sie wach. Was passierte mit ihr?

Darien legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte etwas. Die Worte kamen verschwommen bei ihr an, da sie ein weiterer Ruck durchfuhr, als hätte sie jemand gepackt und heftig an ihr gezogen.

Dieses Mal verstand sie, was Darien und Naril im Chor ausriefen:

„Nein!"

Hände umfassten ihre Taille, um sie zurückzuhalten, aber der neuerliche Ruck, der durch ihren Körper ging, riss sie mit sich. Kaja sah den leeren Stuhl, auf dem sie zuvor noch gesessen hatte und Narils erstauntes Gesicht. Dann wurde alles grau. Die Luft fühlte sich schwer an, wickelte sich um sie wie ein Kokon. Eng und enger schnürte sie sie ein, bis ihr der Atem wegblieb und sich ein unangenehmer Druck auf ihre Ohren legte.

Kein Weg aus der Finsternis - Die Legende von Kaja Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt